Freitag, 18. August 2023

# 023 - Alnus cordata - Eine Parabel - August 2023

Hatte er die Balkontür geschlossen? Hermann war schon unterwegs auf der Autobahn, kurz hinter Magdeburg. Hatte er sie auf „Kipp“ stehen lassen? Wahrscheinlich war, wie er es in der letzten Zeit öfter erlebt hatte. Alles in Ordnung bei der Rückkehr. So wird es auch diesmal sein, beruhigte er sich. Außerdem waren Sturm oder Gewitter nicht angedroht. So fuhr er weiter.

Hatte er aus Altersgründen seine berufliche Leidenschaft vor vier Jahren aufgeben müssen – den Titel „Rentner“ mochte er nicht – so brauchte auch er Urlaub. Dabei mischte er sich gern unter die Leute, in Fußgängerzonen, Museen und Restaurants seines immergleichen Urlaubsortes. Altersgewohnheitsmensch. Aber so vergaß er den anderen Trott: Er dachte sich Geschichten aus im Dahintreiben.

Daraus machte er Stories - die nicht zu sehr ausschmückt werden durften, damit sie authentisch wirkten – und wurde damit zum Mittelpunkt seiner wöchentlichen E-triple-I Runde. Man hätte auch Stammtisch sagen können, aber das hasste er für eine Runde ehemaliger Ingenieure, meist aus den Schwermaschinenbaubetrieben seiner Stadt. Dann doch lieber die neudeutsche Abkürzung, die sich immerhin anhörte wie ein internationales Normungsgremium: Obwohl mit dem E und den drei I „Einmal Ingenieur – Immer Ingenieur“ gemeint war.

Bei der Rückkehr in seine kleine Wohnung kam ihm die Küche dämmrig vor, schien doch die Sonne. Sein Kipp-Gedanke kam zurück. Aber nichts war passiert, nur, dass ein Zweig des Baumes, der vor seinem Balkon stand, sich durch die Kippöffnung geschoben hatte und einen angenehmen Duft verströmte. Einige Zweige drückten mit ihrem Blattwerk von außen gegen die Scheibe, als ob der Baum sich die Nase an der Scheibe plattdrückte. Er lächelte.

Erst einmal musste er ankommen, auspacken, einkaufen. Mit der herzblättrigen Erle, die ihn nun besuchte, hatte er sich in den letzten Jahren angefreundet, als er sie in den immer trockener werdenden Sommern gegossen hatte. In seiner Männerrunde machten sie sich lustig über ihn, wenn er von seiner Alnus cordata schwärmte, nicht nur, weil sie für ihn Lärm schluckte und ihm Luft zum Atmen gab, sondern auch den Balkon an heißen Sommertagen zum schattigen Platz machte, wenn Hermann es in der Dachwohnung nicht aushielt.

Diskutierten sie früher in der E-triple-I-Community leidenschaftlich über die neuesten Konstruktionen der Abraumbagger und warum ihre Nachfolger in den Konstruktionsabteilungen die Kugellager mit der Nano-Oberflächenveredelung einsetzten, so drehte sich neuerdings alles um die große Ansiedlung von Intel mit der „Giga-Chip-Fab“. Da konnte er nicht mitreden. Anders als die TU-Diplomingenieure - einige hatten sogar promoviert – hatte er nach der Polytechnischen Oberschule und Dreherlehre noch die klassische Ingenieurfachschule besucht. Im Schwermaschinenbaukombinat und auch später in der Folge-GmbH war er gefragt, hatte anspruchsvolle Maschinenteile konstruiert, die in die halbe Welt gingen. Zu Kombinatszeiten war er immer wieder im sozialistischen Ausland gewesen. Nach der Wende überließ er wegen seiner Englisch-Schwäche den jüngeren Kollegen die Projektleitungen auf den ausländischen, meist westlichen Baustellen. Russisch war dort nicht gefragt, und er trank weiter lieber Wodka als Whiskey. Als Oberingenieur konnte er sich trotzdem bis zuletzt Respekt verschaffen.

Warum war ihm bisher nicht aufgefallen, dass sein Baum wuchtiger als die anderen Straßenbäume des Viertels war? Als er sich nach ein paar Tagen daran machte, die in seine Küche wachsenden Zweige zurückzubiegen – abschneiden kam für ihn nicht in Frage - stellte er fest, dass das nicht mehr möglich war. Der Ast war schon armdick geworden und weitere Verästelungen fingerten schon an seinem Schrank mit den Gläsern. Zwei Tage später war sein Herd nicht mehr erreichbar, so entdeckte er viele Restaurants und Imbissbuden in seinem Kiez.

Als seine früher so beliebten Stories in der Gruppe sichtlich Langeweile hervorriefen, schlug seine Stimmung um und auch sonst hatte sich etwas verändert. Fast alle Kollegen trugen Basecaps mit bunten Symbolen, Chicago Bulls oder das Wappen des FCM, kombiniert mit dem Logo des neuen Hauptsponsors Intel. Vor kurzem war seine ehemalige Maschinenbaufirma noch Hauptsponsor gewesen. Aber der ging es schlecht und wurde von seinen Kollegen schnell ignoriert. Von wegen „You never walk alone“. Als Hermann seine alte Schapka, auch wenn sie nicht aus echtem Bärenfell war, demonstrativ zum nächsten E-triple-I-Meeting aufsetzte und sich über seinen besten Kumpel lustig machte, weil der sein Harley-Davidson-Basecap rückwärts auf dem Kopf trug und den Rest seiner dünnen Haare an der hohen Stirn strubbelig unter dem Mützenrand hervorlugen ließ, wurde ihm die Freundschaft gekündigt.

Indes entwickelte sich eine gruppendynamische Euphorie. Als die ersten beiden Chip-Fabs eröffnet wurden - immerhin die größte Einzelinvestition, die jemals in Deutschland getätigt worden war, und das von einer der weltweit größten Hightech-Companien aus Silicon Valley - wurde „The sky is the limit“ das Gruppenmotto. Alle waren zur Eröffnung eingeladen, seine alternden Ingenieurskollegen sahen sich als Messdiener in der neuen Kathedrale der Technik und hatten auch gleich einen Spruch parat: „Wenn euer Glaube auch nur so groß ist wie ein Senfkorn, dann werdet ihr zu diesem Berg sagen: ‚Rück von hier nach dort!‘ und er wird wegrücken. Nichts wird euch unmöglich sein.“

Mit der Bibel hatte er seine Kollegen in den letzten 40 Jahren noch nie argumentieren hören. Er wollte einfach nicht glauben, dass die christliche Ambition des CEOs des neuen Großinvestors schon auf seine Kollegen gewirkt hatte. Als mehrheitlich beschlossen wurde, einen Workshop für Halbleiter-Englisch einzurichten, fühlte sich Hermann endgültig ausgebootet.

Er stellte fest, dass die anderen Erlen in der Straße kränklich wirkten: die Blätter zu blass und die Rinden aschfahl. Seine Alnus cordata dagegen überragte, vor sattem Grün strotzend, bereits das Haus. Der starke Ast, der in seiner Balkontür verschwand, wirkte, von außen gesehen, wie eine intime Umarmung, als ob sich eine Hand in den Rückenausschnitt einer Frau schiebe.

Sein Budget für außerhäusliche Mahlzeiten war erschöpft. Die Zweige hatten sich in der Wohnung ziemlich breitgemacht. Da griff er endlich zur Säge. Aber die Baumrinde war wie ein Panzer, den er nur ankratzen konnte. Ockerfarbenes Harz quoll aus den Sägewunden. Es roch seltsam. Woran erinnerte es ihn? Er kam nicht darauf.

In der Gruppe wurde beschlossen, die bisherige ehrenamtliche Unterstützung für das Technikmuseum einzustellen. Als Argument wurde angeführt, dass die Stadt auch die Ausbaupläne für das Museum, die für die Kulturhauptstadtbewerbung aufgelegt worden waren, stark beschnitten hätte. Man müsse das Schwermaschinenbauthema endlich abschließen, den Historikern, besser noch den Industrie-Archäologen, überlassen. Es gelte, den Blick nach vorn zu richten. Hermanns Einwand, dass der Maschinenbau die Mutter aller Technologien sei und anspruchsvoller Schwermaschinenbau auch in der Zukunft zum Beispiel etwa für die Gewinnung seltener Erden für die Chipindustrie dringend notwendig wäre, zählte nicht. Der letzte Anstoß für seine Kündigung war, dass die Gruppe von Ingenieuren aus der Halbleiterbranche beinahe unterwandert wurde. Er hatte seine Heimat verloren.



               Seitdem er seine herzblättrige Freundin durch die Wohnungstür, weiter durchs Treppenhaus und von dort wieder aus dem Fenster hinauswachsen ließ, kamen kaum neue Seitentriebe in seiner Wohnung dazu. Die starken Zweige ließen sich auch hier und da zur Seite drücken, so dass er seine Wohnung wieder besser nutzen konnte. Er sah sich einige junge Triebe näher an, die seinen Kräuter- und Gewürzschrank umspielten. Da kam ihm wieder der Harzgeruch in die Nase. Jetzt fiel es ihm wieder ein: Das war der Geruch seines Kräutersuds. Den hatte er damals auf Empfehlung einer Naturheilerin in kleinsten Dosen dem Gießwasser für seine Erle zugesetzt.

Darauf zog er die Spezialistin wieder hinzu, die sich seinen Baum genau ansah, befühlte, an Hermann und einigen zerriebenen Blättern roch. Sie bat ihn, einen Tee mit der Kräutermischung von damals aufzubrühen, den sie gemeinsam und meditativ tranken, Schluck für Schluck. Mit ihrem Kater Franz auf dem Schoß, den sie immer dabeihatte und fortwährend streichelte, kam sie ihm wie eine geheimnisvolle Druidin vor. Sie klärte ihn auf, dass der dem Gießwasser zugesetzte Kräutersud, auch wenn es nur Nanogramm des Wirkstoffes je Liter gewesen seien, das extreme, expansive Wachstum feinster Wurzeln bewirkt hätten. Damit wäre das Grundwasser den anderen Bäumen entzogen worden. Die gleiche Methode gehöre übrigens als „Dotierung“ auch zum Hexeneinmaleins der Halbleitertechnologie.

Hermann fuhr nie mehr in den Urlaub, sondern thronte in seinem Reich auf dem kräftigen Erlenast und empfing Menschen, die das botanische Wachstumsmirakel bestaunten. Nebenher verkaufte er erfolgreich seine Kräutermischung und die Samen seiner schnell wachsenden Alnus cordata. Einige Besucher nahmen noch schnell verschämt ihr Basecap ab, wenn sie Hermann mit seiner Schapka gewahrten, die er wie eine Krone auf dem Kopf trug. Er wirkte erlenköniglich.