Sonntag, 30. Juli 2023

# 021 Volksstimme-Schlagzeilen im Juli 2023

  •        Muss Intel Subventionen zurückzahlen?
  •        Regierung verlangt vom Konzern Garantien
  •        Intel muss Zugeständnisse machen 
  •        Was zwischen dem US-Chipkonzern und dem Bund vereinbart             wurde
  •        Kommentar Geben und Nehmen
  •        Von Florida nach Alte Neustadt 
  •        Wie der Amerikaner Al Kupetz seine Liebe für Deutschland und              Magdeburg entdeckt
  •        Uni informiert auf Youtube Noch Plätze frei für angehende                       Halbleiterexperten
  •        Stadt startet eigene Intel-Seite
  •        OB Borris über ihr erstes JahrFür Intel aus Taiwan und Israel nach         Magdeburg
  •        Geldpolitik Aus dem Revier: Wann gibt es wieder Zinsen? 
  •        AfD-Aufschwung und Ampel-Streit
  •       Deutschland braucht 1,5 Millionen Zuwanderer 
  •       Vorschlag von Wirtschaftsweiser Schnitzer zum Fachkräftemangel:
  •        Behördenmitarbeiter sollen Englisch können
  •        Land fordert ICE-Züge für Magdeburg 
  •        Verkehrsministerium beantragt wegen Intel neue Schnellbahn
  •        Haseloff erwartet grünes Licht von EU für Intel Sachsen-Anhalts
  •        Ministerpräsident in Brüssel
  •         Kommentar Raus aus der Provinzliga
  •         Intel-Seite nun Freigeschaltet
  •         Von einer Millionenmetropole an die Elbe
  •         Ökonom kritisiert Intel-Strategie Marcel Fratzscher: 
  •        Ansiedlung wäre auch günstiger zu haben gewesen
  •        Neuer Partner in den USA möglich (Partnerstadt)
  •         Pio Lombardi tauscht Mittelmeer gegen Elbe
  •         Sioux Technologies kommt ab Oktober in die Börde
  •         Intel-Park vor Gründung
  •         Neuer Staatssekretär für Bildung
  •         167 neue Wohnhäuser in Magdeburg
  •         EU-Parlament billigt Gesetz zur Chip-Förderung 
  •         Staatssekretär tritt Dienst am 17. Juli an
  •         Intel lockt erste Spitzenforscher an Unternehmen „Sioux“ 
  •         Kommentar Intel zieht
  •         Habeck rechtfertigt Intel-Förderung
  •         Grüne wollen mehr Fernzüge für Dessau
  •         „Das Dach brennt lichterloh!“ Wohnungsunternehmen 
  •         1968 - Intel wird von Gordon E. Moore und Robert gegründet
  •         Überzeugter Wahl-Magdeburger
  •         Radtouren durch Magdeburg und Umgebung
  •         Magdeburg bei Wachstum nur auf Platz zwei
  •         Von den Bergen in die flache Börde
  •         Posten-Affäre: Mitarbeiter schlug Vorab-Gespräch vor
  •         Kommentar Wirtschaft braucht Toleranz
  •         Die Schwierigkeit beim Berichten über Unternehmen
  •         Intel kehrt in die Gewinnzone zurück 
  •         Chip-Gigant profitiert von besseren Geschäften im PC-Markt


Samstag, 29. Juli 2023

# 019 Im Juli 2023 nachgeschaut, gezeigt und erwischt … aber „inteln“ wir nicht alle?

 

19 Im Juli 2023 nachgeschaut, gezeigt und erwischt … aber „inteln“ wir nicht alle?

Beim Start zu einer Bördetour mit einem Freund hatte ich Anfang Juli die Gelegenheit, und zwar von der Wanzleber Chaussee aus, die aktuelle Lage auf dem Intel-Areal zu erkunden. Was mir gleich ins Auge fiel, das war ein neues, großes Verbotsschild: „Betreten der Baustelle verboten! Filmen und Fotografieren verboten! – Ländlicher Verkehr frei! – Landeshauptstadt Magdeburg“. Das alte Flachsilo, gleich rechts hinter der Einfahrt in das Intel-Gelände, wurde von zwei, mit großen Presslufthämmern bestückten Baggern angegangen, in Einzelteile zerlegt und entsorgt.

Ein Teil des Feldes war „schwarzgezogen“ und auf einem anderen Teil gedieh prächtig Zwischenfrucht. Ich hatte aus landwirtschaftlich gut unterrichteten Kreisen gehört, dass man den Acker nicht einfach so liegen lassen könne, weil sich dort sonst unkontrolliert Flora und Fauna entwickelten und sich möglicherweise wieder Feldhamster-Populationen heimisch fühlen könnten. Die hatte man doch mit vieler Mühe vor Kameras und mit Moderation der Magdeburger Wirtschaftsbeigeordneten ausgesiedelt.

Dazu passte auch der Hinweis in der „Volksstimme“ vom 17. Juli 2023 zu Änderungen von bisherigen Fahrradtour-Vorschlägen: 

„Im Süden Magdeburgs baut Intel eine Computer-Chip-Fabrik. (…). Teile der Strecke auf den Feldwegen zwischen der Baumschulensiedlung und Ottersleben sind aber inzwischen gesperrt. Diese Route hat also in Teilen eher historischen Wert.“  So schnell wird auch eine Radtour „Geschichte“.

Show, don‘t tell! Mitte Juli 2023

Sam Gurwitt, amerikanischer Journalist und Schriftsteller, ist über diesen Blog hier „gestolpert“. Er wollte mehr Hintergrundwissen dazu und Magdeburg und Magdeburger kennenlernen. So trafen wir uns an Ort und Stelle.

Was sollte ich ihm erzählen? Ich entschied mich fürs Zeigen. Wir waren auf Bikes unterwegs, da war ein ausführlicher Exkurs über Magdeburg und das Deutsche nicht möglich und auch nicht notwendig, da Sam, so um die 30 Jahre jung, schon seit einiger Zeit in Leipzig seine Fahrradrunden dreht. Ich platzierte gleich meinen autobiografischen Hinweis, dass ich gebürtig aus der Fahrradstadt Münster komme. Unsere Etappen sahen dann so aus:

„Il Capitello Espressobar“: Erstmal Tee und Cappuccino an der Ecke Domplatz/Kreuzgangstraße einnehmen und schauen, wer in Nachbarschaft des Hundertwasser-Hauses und des Landesparlaments aus Politik und Kultur just dort verweilt. Von da hatten wir den Rundumblick auf über tausend Jahre Architekturgeschichte. Dort schmiedeten wir die Agenda des Tages und ich bedachte die ersten Antworten auf Sams Fragen zu meinem Blog, wie zum Beispiel: Wie soll er die monatlich von mir zitierten Schlagzeilen aus der „Volksstimme“ verstehen, die inhaltlich scheinbar nichts mit Intel zu tun haben? Wir kreierten gemeinsam das Verb „inteln“ als Synonym dafür, wenn jemand einen in die Zeit passenden, vermeintlichen Grund vorschiebt – in diesem Fall die „Intel-Ansiedlung“ – um in seinem Sinne für eine Sache zu argumentieren, die eigentlich nichts, oder nur sehr wenig – mit dem vorgeschobenen Grund zu tun hat. So könnte nicht nur in diesem Fall „inteln“ zu einem treffenden Neologismus für solche Vorgänge werden.

Elbtreppe am Domfelsen: Blick auf die Elbe, ein Treffpunkt junger Menschen aus vielen Nationen. Der Niedrigwasserpegel bei ca. 60 Zentimeter, so waren wir gleich bei der Wasserproblematik und meinem Blogbeitrag vom März 2023: „Die zweite Meinung in einem Zuge“, ab Seite 10. Demnach soll – etwas vereinfacht ausgedrückt – selbst bei diesem niedrigen Wasserstand nach Expertenansicht das Wasserabzapfen für Intel aus dem Umfeld der Elbe nicht kritisch sein.

Der jemals gemessene Maximalpegel war im Jahr 2013 bei 753 Zentimetern – und ließ mich damals endgültig Magdeburger werden. Wie sich da der Fluss gefühlt haben muss, zeige ich Sam live mit meiner Performance „Ich, der Fluss“ („… die Ufer brechend, nicht mehr innehalten, nicht mehr aushalten können, die drückende Flut …“), die ich auch schon als „Me, the river“ bei Marc Kelly Smith, dem Godfather of Poetry Slam, in Chicago präsentiert habe.


Am Hassel: Am späten Donnerstagvormittag zeigt der Hasselbachplatz trotz der Ferien- und Urlaubszeit sein betriebsames Tagesgeschäft. Am Knotenpunkt für Busse, Bahnen und Autos –Fahrräder sind hier in der Minderheit – sind die verschiedensten Menschen emsig unterwegs. Zum Abend hin wechselt das Publikum fast komplett, nachts wird der Hassel zur Kneipen-, Restaurant- und Barmeile. Um Sam die Vielfalt zu zeigen, beginne ich, begleitet von Funky-Music aus meiner Bluetooth-Box, meine „Check-den-Hassel“-Performance („… Späti, Shisha, Delikata … Sushi, Tipco und Sitara …“ usw.), breche nach zwei Strophen ab, weil einige auf den Bänken rumhängende Männer und Frauen deutlich ihren Unmut zeigen: Wir sollten nicht abends wieder kommen, da könne man sich nicht mehr hertrauen, weil dann andere gefährliche Gestalten, gemeint sind wohl Menschen mit offensichtlichem Migrationshintergrund, alles unsicher machen würden. Mein Einwand, dass ich selbst sehr oft am Hassel bin und diese Erfahrungen nicht teile, hilft nichts. So zeigt sich live eine wenig schöne Facette der Magdeburger Willkommenskultur. Vielleicht wäre mein Text über die „Nachtscheißer am Hassel“ besser angekommen. Aber dazu fehlte mir dann der Mut, und Sam wird es sich auf YouTube https://youtu.be/VtmHHWjjJCc ansehen müssen.

Erich Weinert in Buckau: Wir radeln am Palais am Fürstenwall vorbei, heute Staatskanzlei und Amtssitz des Ministerpräsidenten. Bis 1989 „Haus der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft“, seit 1953 namentlich auch „Erich-Weinert-Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“. Im ehemaligen Arbeiter- und Industriestadtteil Buckau, im Hinterhof des jetzigen Literaturhauses und Geburtshauses des Schriftstellers und Kommunisten, Lyrikers und Politikers, steht sein Denkmal. Erich Weinert ist ein Symbol für die sozialistische Vergangenheit, für die Arbeiterklasse und zugleich für einen Teil der offiziellen DDR-Kulturpolitik. Das Denkmal stand früher an einem exponierten Ort in der Stadt. Dieses Für und Wider wird auch in Weinerts Gedicht „Vernunft“ deutlich, das ich für Sam im Schatten der Weinert-Statue rezitiere.


„Vernunft“

aus „Rhythmische Gespräche“ von Erich Weinert

aus „DIE KUGEL – ZEITSCHRIFT FÜE NEUE KUNST UND DICHTUNG“ 1920, Seite 10 - Magdeburg

Wohin ich mich auch wende,

immer fühl ich deinen sorglichen Tantenblick,

Begleiterin Vernunft! 

 

Aller Bewegung

schreibst du die Grenzen vor;

unendlichen Flug

biegst du zurück ins Endliche;

dem aufflügelnden Geist

legst du Fangschlingen.

Alles Ewige

zerschneidest du sorglich in Zeit,

alles Unendliche

in Räumlichkeit

Dem freien Gedanken schleuderst du,

wenn er über den Schlünden edel schwebt,

deines Neides sichere Pfeile nach.

 

Die Gottheit hat dich bestellt

zur Ordnerin

Du hast Maß gelegt an alle Dinge.

Du zerstachst der Ewigkeit

die stürmende Ferse

Feindin des Maßlosen!


SKET – Heavy Spurensuche:


Vorbei an ehemaligen Industriegebäuden, nun in schicke Eigentumswohnungen und Lofts transformiert, fahren wir durch ein inoffizielles, rückwärtiges Tor auf das alte SKET-Gelände in Buckau, „Schwermaschinen-Kombinat-Ernst-Thälmann“. Reste von verfallenen Fabrikhallen, Industriebrachen und Schuttberge, hier und da vereinzelte sanierte und genutzte Industriegebäude, weite freigeräumte Flächen als Bauerwartungsland. Wir streifen alleine durchs Gelände und ahnen vielleicht, wie hier 140 Jahre lang bis zur Wiedervereinigung bis zu 30.000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf einer Fläche von ca. 100 Hektar ihre meist körperlich schwere Arbeit verrichtet haben. Mit körperlichem Einsatz klaube ich ein großes, zerklüftetes Stück Eisenschlacke vom Boden, das mit viel Fantasie Ähnlichkeit mit einem gondelartigen, surrealen Boot haben könnte. Oder doch eher ein Flugzeugträger? Das Zeugnis der Buckauer Vergangenheit fixiere ich mit Spanngummibändern auf meinem Gepäckträger, und es begleitet uns durch den weiteren Tag.

„Schau mal, da oben“, macht mich Sam aufmerksam darauf, dass wir beobachtet werden. Von einem der alten Gebäude schaut uns böse ein Eisen-Mann an. Will er in Ruhe gelassen werden?

Wir radeln weiter zum Technikmuseum, mit einem kurzen Blick auf die maschinellen Hinterlassenschaften des ehemaligen Magdeburger Schwermaschinenbaus. Bis in den Hinterhof, wo die große Ernst-Thälmann-Statue etwas versteckt steht, gelangen wir nicht, aber zum benachbarten ehemaligen, großen, jetzt sanierten SKET-Verwaltungsgebäude. Dort arbeiteten früher Hunderte Ingenieure in den Konstruktionsabteilungen. In der Eingangshalle können wir auf einem umlaufenden Wandfries lesen, welche großen und kleinen, zivilen und militärischen Produkte von Buckau aus in die Welt gingen. Heute ist hier der Hauptsitz der regiocom SE, eines IT- und Digitalisierungsunternehmens mit 6.000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen an 25 europäischen Standorten. Magdeburg „kann“ also Transformation, und große Firmen sind nichts Neues.


Stadtfeld: Bürger und Handwerker-Szene: Kontrastprogramm. Über die „Fahrradautobahn“, also auf den gut ausgebauten Fahrradwegen des Grüngürtels entlang der alten Festungsanlagen, wie dem Glacis, transformieren wir uns in den Stadtteil „Stadtfeld“. Um 1900, zu Kaiser Wilhelms Zeiten erbaut, findet man hier noch viele der nicht im Krieg zerstörten großen Bürgerhäuser. Hier lebt heute der so genannte akademische Mittelstand, junge Familien mit Kindern, auch zum Teil die alternative Szene. Einen kleinen Überblick über diese Klientel erhalten wir am Eingang des großen Bioladens mit angeschlossenem Restaurant. In einer Auslage finden wir Flyer zu Yogakursen, Heilpraktikern und Naturheilkunde, Visitenkarten von Psychologinnen und Spezialtherapeuten, zu Selbsthilfegruppen, über alternative Medizin, vegane Ernährung etc.

Nach unserer Mittagspause will ich Sam im Antik- und Raritätenladen um die Ecke kurz den Temponauten Kalle vorstellen (siehe dazu den Blog-Beitrag vom Januar 2023, ab Seite 9), der aber zu meiner Verwunderung wegen eines Gespräches mit einem Kunden diesmal überhaupt keine Zeit für uns hat.

Anschließend interviewen wir einen bodenständigen Tischlermeister, der im Stadtfeld eine handwerkliche Produktion betreibt (siehe auch „123 Jahre handwerkliche Transformation“, im Juli-2023-Blog, wo auch das Thema Intel kurz aufblitzt). Eine spontane Umfrage unter Stadtfelder Passanten „Was halten Sie von der Intel-Ansiedlung“, schließt sich an, danach verabschiedet sich Sam, der mit dem Fahrrad Richtung Bahnhof muss. Weiterreise für ihn.

Allein gelassen, war mein Drive passé, die Luft raus, und ich fiel in eine melancholische Sommerstimmung (siehe auch „Intel-Umfrage kippt in die Sommerpausenstimmung“ im Juli-2023-Blog). Dabei hätte meine Da-Da-Performance „Das Klagelied einer einsamen Straßenbahnschiene“, die am unscheinbaren Olvenstedter Platz im Stadtfeld spielt, dort so gut gepasst, gerade im Gegensatz zu den Nachtschweißern am prominenten Hasselbachplatz.  

Jetzt habe ich auch mal etwas „geintelt“, um so meine Performances hervorzuheben. Ich lerne, dank Intel, täglich dazu.

 

 

 

 

# 020 - Im Juli 2023 ein Blick auf 123 Jahre handwerkliche Transformation - ein Blick von außen

 Von der uralten gusseisernen Presse zum modernen CNC-Holz-Bearbeitungszentrum

-     Handwerkliche Produktion und Tradition nebeneinander im Stadtfeld

Weiter unterwegs mit Sam Gurwitt – einem jungen, zurzeit in Leipzig lebenden amerikanischen Journalisten, der zum Thema Intel-Ansiedlung auf Recherchereise ist – im Stadtfeld unterwegs. Sam möchte ein noch genaueres Gespür dafür bekommen, wie die Magdeburger „ticken“. Da habe ich gleich eine gute Gelegenheit für ihn. Wir werden von Gerlinde, Frank und Tim Heine von der Möbel- und Bautischlerei Heine im Meisterbüro – oder besser im „Show room“ – in der Arndtstr. 25 freundlich empfangen.

Herbert Beesten für „Mein Stadtfeld“: Ich habe den Eindruck, dass das, was Sie hier im Stadtfeld machen, nicht so viele machen.

Frank H.: Ja, wir sind damit hier fast allein. Es haben viele Handwerker aufgegeben, so sind insgesamt nur noch wenige da, und wir sind hier in Stadtfeld-Ost, glaube ich, die letzten, die auch noch produzieren. Viele Tischlereibetriebe machen heutzutage nur noch Montagen.

Wie schaffen Sie das, es ist ja bestimmt nicht einfach?

Frank H.: Wir haben rechtzeitig investiert, auch in moderne CNC-Maschinen und produzieren hier im Hinterhaus in eigenen Räumen, die unsere Altvorderen und wir bereits seit 1900, also in der 5. Generation, als Tischlerei nutzen. So können wir noch einigermaßen mit dem Handel konkurrieren, außer, wenn z.B. die Tischlereien der Justizvollzugsanstalten oder der Behindertenwerkstätten – wie beim neuen Justizzentrum an der Halberstädter Straße – als Wettbewerber auftreten. Die können wegen des Lohngefüges natürlich günstiger anbieten.

Wo ich herkomme, da sagt man Schreiner, nicht Tischler. Was ist der Unterschied?

Gerlinde H.: Ich habe gleich an Ihrer Aussprache gehört, dass Sie von woanders kommen. Aber da gibt es keinen Unterschied. Wir sagen hier ja auch Fleischer und Sie dagegen vielleicht …

… Metzger! Und unsere Frikadelle ist bei Ihnen …

Gerlinde H.: … die Bulette, genau!

Also alles sind Meatballs, stellt Sam fest. Anderorts auch Klops oder Fleischpflanzl, ergänze ich. Aber wir kommen vom Thema ab.

Frank H.: Ich weiß auch nicht, von wo sich das Wort „Schreiner“ begründet, bei Tischler ist es ja klar, weil er Tische baut.

Gerlinde H.: Das kommt wahrscheinlich von „Schrein“, also von Schrank.

Schrein könnte auch auf Sarg hindeuten, die haben die Schreiner früher auch hergestellt, auf dem Dorf zumindest. Bauen Sie auch Särge, also Totenschreine?

Frank H.: Nein, Erdmöbel haben wir noch nie gemacht.

Auf Ihrer Homepage habe ich gesehen, dass die Holzverkleidungen, außen am neuen Hotel „Das Elb“ im Stadtpark, aus Ihrem Hause kommen. Das sieht ja architektonisch beeindruckend aus, wie ein auf Stelzen stehendes Kreuzfahrtschiff.

Tim H.: Ja, und auch im Innenausbau haben wir einiges gemacht.

Da fällt mir mein Projekt „Kulturfrachtschiff“ ein, das ich zur Kulturhauptstadtbewerbung als Bühne für die freie Kulturszene auf dem Domfelsen vorgeschlagen hatte. Das Thema Kulturhauptstadt ist ja leider passé. Aber vielleicht wird das Kulturfrachtschiff früher oder später mit Hilfe eines Sponsors doch noch Realität. Aber da braucht man jemanden, der so etwas auch bauen kann. Trauen Sie sich so etwas zu?

Frank H.: Wie soll das denn aussehen?

„Rein zufällig“ habe ich hier auf meinem Handy einige Zeichnungen, Bilder, sogar ein mit Virtual Reality animiertes Video und in meinem Atelier auch ein reales Modell aus Holz im Maßstab 1:100. Sie können sich das auch alles unter www.kulturfrachtschiff.eu genau ansehen.

Tim H.: Sehr interessant und visionär, das wäre wirklich ein tolles Projekt und eine Herausforderung. Aber Schiffe bauen wir nicht.

Es hat nur die futuristische Form eines Schiffes, genau besehen, ist es ein Bühnenraum, der auf kleinen Stelzen auf dem Domfelsen stehen soll.

Frank H.: Ach so. Dann braucht man einen Architekten, der das plant, dann trauen wir uns das zu und hätten Spaß daran: Unten ein Stahlrahmen, den Baukörper als Holzständerwerk und lackierte Holzflächen außen. Und bei drohendem Hochwasser kann man es, wie die alten Rayon-Häuser hier im Stadtfeld, abbauen, danach wieder aufbauen. Aber wenn das Kulturfrachtschiff circa 50 Meter lang werden soll, kostet das einiges, aber dafür bringen wir gerne als Sponsoren-Schild „Intel“ an.

Kommen wir gedanklich zurück in die Arndtstraße. Auch wenn hier offiziell baurechtliches Gewerbe zugelassen ist, ist das doch gefühlt eher ein Wohngebiet. Gibt es dadurch Probleme?

Gerlinde H.: Nein, eigentlich nicht. Sicher gibt es ab und zu Maschinengeräusche, aber die Nachbarschaft kennt und akzeptiert das, immerhin ist unsere Tischlerei seit 123 Jahren hier ansässig und der Schallschutz moderner Isolierfenster hilft auch. Wir betreiben schon seit 30 Jahren eine nachhaltige Heizungsanlage für die Werkstatt und das große Wohnhaus – also lange vor der aktuellen Energiediskussion – preis- und umweltgünstig mit unseren Holzspänen. Der Schornsteinfeger und das Umweltamt überwachen regelmäßig alle Anlagen und Emissionen.

Für welche Kundschaft arbeiten Sie?

Frank H.: In der letzten Zeit öfter überregional für Arztpraxen und medizinische Einrichtungen. In diese Branche sind wir durch Empfehlungen gut eingeführt. Gerade statten wir eine Radiologie Praxis in Nürnberg aus.

Und hier in Magdeburg selbst?, will Sam wissen.

Gerlinde H.: Ja auch, vor allem ältere und langjährige Kunden hier aus dem Stadtfeld können wir als Stammkunden bezeichnen, weil wir noch Sachen in Ordnung bringen. (Sie weist auf einige Gegenstände am Eingang.) Da, sehen Sie, dieser Schubkasten und Nähschrank warten auf eine Reparatur, typisch sind die beiden alten Stühle, die aus dem Leim gegangen sind. Das macht sonst fast keiner mehr.

Wir arbeiten auch alte Möbel auf, wie z.B. diesen alten wuchtigen Schreibtisch, an dem wir hier sitzen.

Was erwarten Sie von der Intel-Ansiedlung?, will Sam weiterwissen.

Frank H.: Wir sind auch Wohnungsvermieter und wissen, dass die Nachfrage nach günstigen Wohnungen gerade hier im gewachsenen Stadtfeld mit dem guten Wohnumfeld zunehmen wird. Wir sind durch unsere über 120-jährigen Firmengeschichte auf Veränderungen und neue Einflüsse gleichsam „genetisch“ vorbereitet. Die Gründerzeit und die Weltwirtschaftskrise wurden durchlebt, wir konnten auch in DDR-Zeiten privatwirtschaftlich bleiben. Dann die Wende, da hat sich auch technisch viel verändert. Wir haben schon früher mit Materialengpässen und einer schwierigen Stromversorgung zu kämpfen gehabt.

Tim H.: Schöne Beispiele dafür sind unsere über 123 Jahre alte gusseiserne Holzpresse, die Furniere aufbringt, und unser neustes CNC-Holzbearbeitungszentrum zum automatischen Bohren, Fräsen und Sägen in einem Arbeitsgang, das zeige ich Ihnen, wenn Sie möchten.

Gern.

So machen wir uns auf den Weg. Es geht vorbei an den Meisterbriefen der Vorbesitzer Arthur und Wolfgang und auch des heutigen Meisters Frank Heine, an einem Schwarz-Weiß-Bild von 1934, auf dem genau diese drei – Frank ist noch ein kleiner Junge – zu sehen sind, in das Werkstattgebäude im Hinterhof und erhalten kurze Vorführungen der beiden Arbeitsgeräte, die unterschiedlicher nicht sein können.


Hier arbeiten neben Tischlergesellen auch zwei Auszubildende. Einer davon macht gerade seine Prüfung und wird übernommen. Ein neuer Lehrling beginnt im September seine Ausbildung. Er hat vorher ein Praktikum im Betrieb gemacht, damit er ein realistisches Bild vom Tischlerberuf bekommt und durchhält. „Nur: ‚Ich will irgendwas mit Holz machen, reicht bei uns als Berufsmotivation nicht aus‘“, so Tischlermeister Frank Heine.

Wir bedanken und verabschieden uns. Ich glaube, Sam hat einen authentischen und überzeugenden Blick ins deutsche Handwerk erhalten.

Weitere Infos zum Tischler-Betrieb: siehe auch www.tischlerei-heine-magdeburg.de

Mittwoch, 19. Juli 2023

# 022 Intel-Umfrage im Juli 2023 kippt in die Sommerpausenstimmung

  Sommer verdrängt das Stadtgespräch

-      Schweifen zwischen Schelli und Schrote

Ich bin weiter mit Sam Gurwitt in Magdeburger Bezirk Stadtfeld unterwegs. Wir möchten noch eine kleine Zufallsumfrage zum Thema „Intel“ machen.

Vor einer Bäckerei am Schelli (populäre Kurzbezeichnung für den Schellheimerplatz) sitzen ein paar Menschen mittleren Alters.

Mein Stadtfeld: Was sollten Amerikaner im Stadtfeld entdecken?

Antonio: Hier den Landbäcker, als den Kiezbäcker, auf jeden Fall!

Wie sehen Sie die Intel Ansiedlung?

Antonio: Da bin ich ganz ehrlich, da kann ich nicht mal was zu sagen, weil ich mich damit überhaupt nicht beschäftige, das ist überhaupt nicht mein Ding, Computer und so.

Miriam: Soll das nicht da gebaut werden, wo die Metro ist?

Nein, hinten raus, Süd-Osten, noch hinter Ottersleben und hinter der Autobahn

Antonio: Ah, da wo Amazon ist, ja?

Ja, in etwa, aber Amazon ist auf Osterweddinger Gebiet, also Gemeinde Sülzetal. Das Kerngebiet der Intel-Ansiedlung ist auf Magdeburger Gebiet. Eulenberg heißt das.

Miriam: Ach so

Zwei junge Mütter am Rand des Schelli-Spielplatzes

Wie sehen Sie die Intel Ansiedlung?

Kati: Es ist spannend, was daraus gemacht wird. Wenn natürlich alles teurer wird, die Mieten zum Beispiel, weil die Vermieter meinen, sie könnten die Preise anziehen, weil ein großer Wirtschaftsfaktor da ist, das wäre das falsche Signal. Aber wenn Sachsen-Anhalt dadurch in Deutschland und in der Welt besser gesehen wird, dann ist das schon gut.

Jessi: ich weiß gar nicht Bescheid, ich komme aus Dresden.

Magdeburg stand ja im Wettbewerb zu Dresden. Sind Sie sauer, dass Intel jetzt nach Magdeburg kommt?

Jessi: Davon weiß ich nichts.

Sam: Als Person, die sich nicht speziell mit Intel beschäftigt. Was bekommt man als „normale“ Magdeburgerin von dem Thema mit? Hört man viel davon? Spricht man darüber?

Kati: Ich lese bewusst zu dem Thema, z.B. in der „Volksstimme“ oder höre beim MDR zu, wenn da etwas zu dem Thema kommt. Mein Mann war durch seine Tätigkeit im Stadtplanungsamt schon früh damit beschäftigt, so dass ich auch früh wusste, dass ein großer Investor kommen soll. Da lese und informiere ich mich bewusst zu dem Thema und warte nicht, bis mir das irgendjemand erzählt.

An den 5-jährigen Julian, Sohn von Kati, im Sandkasten: Was findest du gut an Stadtfeld?

Julian: Den Eisladen

Warum

Weil es da so viel Eis gibt.

Hast du schon mal was Intel gehört?

Nööö

Ich verabschiede mich von Sam, der mit dem Fahrrad zum Bahnhof fahren muss. Er hat im Umland noch einen Termin für seine Intel-Recherche.

Ich spreche einen älteren Passanten an:

Herr P.: Ich habe hier im Stadtfeld mal vor 50 Jahren gewohnt, ich schau mir das ab und zu noch mal an. Einiges ist ja noch wie damals, aber es ist auch viel Neues da oder es hat sich einfach verändert. Ich wohne jetzt in einer anderen Magdeburger Ecke.

Was für eine Meinung haben Sie zu Intel?

Herr P.: Intel? Ich hab davon gehört, … aber …kann sicher nicht schaden, für die Stadt, aber für die paar Arbeitsplätze ist das ne Menge Geld, das kann man auch für andere wichtigere Zwecke ausgeben, …  ist meine Meinung.

Was wäre für Sie wichtiger?

Ja, vieles. Es gibt so viel Sachen, die wichtig sind. So viele Milliarden, um die anzulocken und wer weiß, ob die wirklich 20 Jahre hier produzieren oder wieder woanders hingehen. Man weiß es nicht. Es kann gut sein, für die Stadt, aber wenn die Leute anlocken, werden die Wohnungen knapp, nachher weiß man das, vorher nie. Dann geht guter Boden verloren, bester Bördeboden, der ist ja wertvoll, ich hoffe, den nehmen se vorher weg. Im Großen und Ganzen ist es ganz gut, dass sich im Osten etwas Größeres ansiedelt. Hoffnung ist schon da.

Ich finde keine weiteren Ansprechpersonen im Stadtfeld. Die Sommersonne heizt alles auf und hat die Straßen leergebrannt. Anscheinend ist bei vielen Magdeburgern und Magdeburgerinnen Intel kein oder nur ein nebensächliches Thema, also nicht unbedingt das Stadtgespräch, es beschränkt sich auf Typisches, meist unreflektiertes Kolportieren von Argumenten, die man immer wieder hört: Wird es teurer? Ist es zu viel Geld?  Was ist mit dem Bördeboden?

Liegt es an der aufkommenden Sommer-, Ferien- und Urlaubsstimmung, dass niemand pointierter zu Intel Stellung nimmt, oder ist es die Hitze am bislang heißesten Tage des Jahres?



Ich beschließe, meine Umfrage einzustellen, folge dem Tipp vom Julian und genehmige mir ein Tartufo im Eiscafé „Angelino“. Anschließend versuche ich, der Sommerträgheit in Stadtfeld zwischen Schelli und Schrote (kleiner Bach durchs Stadtfeld) nachzuspüren: