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Freitag, 10. Mai 2024

# 051 "K wie Karambolage"- Ein VR Movie

Ich hatte mich gleich bereit erklärt, den Ortstermin wahrzunehmen. Es passte in meinen Plan, von Prag aus auf seinen Spuren zu wandeln, nach und nach seine Reisen nachzuvollziehen. Magdeburg lag schon auf halber Strecke zur Insel Norderney, aber das behielt ich für mich. Dorthin hatte K. als junger Mann seine erste Reise unternommen. War er auch mit der Eisenbahn über Magdeburg gefahren, um sich dort über Fragen der Arbeitssicherheit zu informieren? Magdeburg war damals neben Böhmen ein wichtiges Industriezentrum.

Seit einiger Zeit häuften sich die Anfragen von meinen tschechischen Landsleuten, ob unser Schutz für die verschiedenen Policen auch gelte, wenn man für ein paar Jahre auf dieser Baustelle in Deutschland arbeiten und zugleich in Magdeburg leben würde. Dort sollte etwas Neues entstehen: Riesige Computerchip-Fabriken, Giga-Chip-Fabs. Kamen da neue Risiken auf unsere Versicherung zu?

Wandbild auf dem Weg von DELL
zum Hbf Halle (Saale)

„Wir müssen uns den neuen Technologien stellen, deren Umfeld und Risiken ausleuchten und vor allem die Rolle der KI begreifen“, verkündigte ich den Herren Direktoren. Denen gefiel das: „Da müssen jetzt die jungen Leute ran, das ist die Zukunft, also los!“, hieß es. Die Herren waren nun so gut gelaunt, dass ich ein paar Urlaubstage anhängen durfte.   

Jung war ich. Ich sprach auch Deutsch, in der Schule auf nachdrückliches Anraten meines Vaters gelernt. Beim Umstieg in Dresden kaufte ich die aktuelle „Süddeutsche“ und das „Handelsblatt“. Für meine Recherchen hatte ich auf meinem Notebook schon ältere Ausgaben der beiden Zeitungen sowie meinen Abo-Zugang zum E-Paper der „Magdeburger Volksstimme“, die ich im ICE nach Leipzig nach „Intel“ durchforstete. Mir fiel dabei zum ersten Mal bewusst das kleine, silbern glänzende Label neben meiner Notebook-Tastatur auf: „intel CORE i7 10TH GEN“, obwohl es dort schon seit zwei Jahren kleben musste.

Für den Zwischenstopp in Leipzig, der Stadt der Bücher, wollte ich mir etwas Zeit nehmen, um auf seinen Spuren zu wandeln, die in Prag schon zu ausgetreten waren. In Leipzig hatte er die ersten Verleger für „Die Verwandlung“ und „Das Urteil“ gefunden. Die Cafés und Kneipen, die damals seine Treffpunkte mit Ernst Rowohlt und Kurt Wolff waren, gab es nicht mehr. Vielleicht aber noch einen anderen, in seinem Tagebuch verschlüsselt mit „B“ nicht genau bezeichneten Verweilort. Das führte meine Überlegungen wieder zu meinem Auftrag zurück: Bis zu siebentausend Bauarbeiter, überwiegend Männer, über Jahre in Magdeburg, hatte ich gelesen. Zum Risiko der Transformation wird auch das Thema „B“ gehören. Da können und werden Unfälle und Zusammenstöße passieren.

Das nasskalte Wetter trieb mich früher als gedacht zum Kopfbahnhof zurück. Die monumentale Fassade ragte in der Dämmerung bedrohlich auf, verwandelte sich aber dahinter in die Glitzerwelt eines tiefgründigen Promenaden-Bahnhofs.

Ich hatte noch etwas Zeit, in der unterirdischen Geschäftswelt zu flanieren und einer meiner Lieblingsbeschäftigungen nachzugehen dem Beobachten von Menschen. Mir fiel gleich eine interessante Frau auf, die mich an Miluška, erinnerte. Nordisch kühl, mit pechschwarzen aufgesteckten Haaren, eine, die weiß, was sie will. Ich hätte sie aber niemals angesprochen, als sie mir mit seltsam angehobenem Haupt in der Einkaufspassage entgegenkam. Plötzlich änderte sie ihre Richtung, ging auf mich zu. Ich stoppte. Sie lief weiter. Ich trat im letzten Moment zur Seite. Zu spät. Sie touchierte mich an der linken Schulter, änderte darauf die Richtung und stieß mit dem Knie krachend einen Werbeaufsteller um. Sie blieb wie erstarrt stehen, als wenn jemand „Freeze!“ kommandiert hätte. Ich war in ein paar Schritten bei ihr. Sie war nicht ansprechbar. Ein Schock? Ein Blickkontakt stellte sich erst allmählich ein. Wir schauten uns zwar an, aber sie war wie in einer anderen Welt und kam nur langsam zu sich, sagte kein Wort. Sie fing an, mich anzufassen, drücke mit flachen Händen gegen meine Brust, packte mich an beiden Schultern und schüttelte mich, zuerst vorsichtig, dann kräftiger, dann wieder langsam wiegend, als ob sie mein Gewicht schätzen wollte. Ich war irritiert, wir kannten uns nicht, fand es „übergriffig“, aber mir fehlten auch die Worte.

„Sie sind ja echt …“, stammelte sie, ihr Blick war jetzt auf mich gerichtet, etwas ungläubig, als wenn ich ein Geist aus dem letzten Jahrhundert wäre. „Sie sind ja echt!“, rief sie, „wirklich echt!“ Sie ließ mich los und tastete mit beiden Händen ihren Kopf, ihr Gesicht ab, als wenn sie etwas suchte. Die Starre war in ihrem Gesicht einem freien Lachen gewichen, als wenn sie etwas begriffen hätte. Sie drehte sich weg und rannte, leicht humpelnd, in die Richtung, aus der sie gekommen war. Ich sah kurz Ihren schönen Nacken. Sie verschwand. Schade.

Kein ICE in Richtung Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt? Im IC nach Magdeburg, der schon Norddeich-Mole, den Fähranleger nach Norderney, als Endstation auf der Anzeigentafel auswies, vertiefte ich mich wieder in mein Recherchematerial. Erst die Arbeit, dann das heimliche Ziel. So konnte ich trotz der vielen Mitreisenden ganz für mich sein.

Richtig voll wurde der Zug in Halle, fast bis auf den letzten Platz. Ein älterer Herr fragte höflich, aber bestimmt: „Sorry, ist der Platz neben Ihnen noch frei?“, sodass ich meinen Rucksack von dort wegnahm. Er streckte sein linkes Bein vorsichtig in den Gang und stöhnte dabei, den Kopf schüttelnd. Ein wenig zu laut, wie ich fand. Ob von ihm beabsichtigt oder nicht: Es ließ sich nicht vermeiden, dass er zusah, wie ich die verschiedenen Zeitungsartikel auf dem Laptop-Bildschirm aufrief. Ungeniert verfolgte er alles. Selbst als ich mich demonstrativ zurücklehnte, die Arme vor der Brust verschränkte, ihn direkt und ernst ansah, bewirkte dies nur, dass der ungebetene Mitleser sich zu meinem Computer vorbeugte, seine Brille aufsetzte, um wohl auch noch die letzten Feinheiten erkennen zu können.

„Soll ich es für Sie noch etwas vergrößern?“, fragte ich etwas scharf und laut genug, sodass einige der Umsitzenden aus ihrem Dämmern mit einem kaum wahrnehmbaren Ruck auffuhren.

„Entschuldigen Sie, sorry, ich weiß, das ist nicht höflich, ich war so überrascht, aber ich befasse mich gerade viel mit Intel, und, wie ich sehe, Sie auch?“

„Meine Befassung mit dem Thema ist beruflicher Natur. Vertraulich, wenn Sie wissen, wie ich das meine.“

„Ich glaubte, gleich eine Ahnung zu haben, als ich den freien Platz neben Ihnen entdeckte“, sagte er, gerade so laut, dass ihm auch die Aufmerksamkeit der anderen gewiss war.

„Eine Ahnung?“

„Wissen Sie, was ich gerade erlebt habe?“

Wusste ich nicht, aber dass es mit meiner beschauliche Recherchearbeit zu Ende war, das wusste ich und klappte mein Notebook zu. „Was denn?“, fragte ich, nun in einem etwas mehr interessierten und leiseren Tonfall.

„Ich möchte nicht stören. Machen Sie ruhig weiter“. Er war auch leiser geworden, sodass bei   Sitznachbarn die Lider wieder schwerer wurden und sie sich wieder dem Dösen hingaben.

„Und was haben Sie erlebt?“, wandte ich mich ihm zu und signalisierte mit einer auffordernden Geste, dass ich bereit wäre, ihm, dem Ahnungsvollen, zuzuhören. Vielleicht konnte ich meine Recherchen auf eine andere Art fortsetzen.

„Das hätten Sie sehen müssen, bei DELL, vom Polylux zum Ätsch -Em-Di.“

„DELL … Poly… was?“

„DELL, der amerikanische Computerhersteller, der mit Intel zusammenarbeitet, hat in Halle eine große Niederlassung.“

„Ach so, wusste ich nicht.“ Unauffällig verdeckte ich mit meiner Hand das DELL-Logo meines Notebooks und lenkte ab: Und was ist noch mal Poly-Jux?“

„Lux. Polylux. Den hatte man früher in den Schulen, man schrieb mit Stiften auf eine Folie, das Bild wurde dann an die Wand projiziert.“

„Ach so, Sie meinen wahrscheinlich einen Overhead-Projektor!“

„Sie kommen wohl nicht von hier, was?“

„Nein. Und wie hieß das andere? Ätsch-Em-Di? Mein Deutsch ist nicht so gut.“

„Das ist ja auch Amerikanisch. Die drei Buchstaben HMD für Head-Mounted-Display.“

„Kenn ich nicht.“

„Man sagt auch VR-Brille dazu, VR für Virtual-Reality“, belehrte mich mein Sitznachbar, tastete dabei sein linkes Schienbein ab und verzog das Gesicht schmerzlich.

„Ah, Virtual-Reality, das habe ich schon mal gehört oder im Internet gesehen.“

„Also, die haben da den Klassenraum der Zukunft eröffnet, alles elektronisch, der ganze Raum voller Computer, große und kleine, Bildschirme, vor allem große und ganz große, und Kameras, überall, die alles übertragen für Webkonferenzen zwischen Lernenden und Lehrenden. Unser Ministerpräsident, der Wirtschaftsminister und die Geschäftsführer von Deutschland waren da. Insgesamt bestimmt 250 Personen. Ich sage Ihnen, die haben alle Register gezogen, ich bin jetzt noch richtig erschlagen.“

„Und wer sind ‚die‘?“, versuchte ich ihn daran zu erinnern, dass ich neben ihm saß.

„Intel und DELL!“

„Ah, jetzt verstehe ich: Intel auch. Unser gemeinsames Thema. Und der Bundeskanzler war da?“

„Der Bundeskanzler? Nein.“

„Sie sagten doch ‚Geschäftsführer von Deutschland‘.“

„Nein, ich meinte die Geschäftsführer von DELL Deutschland und die Geschäftsführerin von Intel Deutschland!“

„Und was haben Sie da gemacht?“

„Heute war doch die offizielle Eröffnung des ‚Classroom of the Future‘. Gäste aus Politik, Wirtschaft und Medien. Ich war auch eingeladen.“ Dabei zelebrierte der euphorisierte und wieder aufdringlicher werdende Mitreisende einen Augenaufschlag, den man fast klappern hören konnte und setzte fort: „Ich habe dann auch die VR-Brille aufgesetzt und etwas probiert.“

Kurz kam mir der Gedanke, dass man ihn als Repräsentanten von „Oma und Opas for Future“ eingeladen haben könnte. Aber die Bemerkung verkniff ich mir. „Und wie war‘s?“

„Unglaublich, als wenn man wirklich in einer anderen Welt wäre, so realistisch durch die 3-D-Technik. Ich habe eine kleine Fabrik gebaut und gleich simuliert. Eine virtuelle Trainerin gab mir am Schluss die Anweisung, auf den virtuellen KI-Knopf zu drücken und dann …“, er strich dabei über sein im Gang ausgestrecktes Bein, kniff die Augen etwas zu.

 Und dann?“

„Dann musste ich so einem fahrenden Roboter aus dem Weg gehen, ganz schnell, und schon tat‘s richtig weh.“

„Der Roboter hat Sie erwischt?“

„Da konnte ich noch ausweichen, weil diese nette Trainerin, also der Avatar in der VR-Welt ‒ oder sagt man die Avatarin? ‒ egal ‒ mich warnte und mir die Fluchtrichtung anzeigte. Dahin bin ich gerannt, in Echt, hatte in dem Moment nicht bedacht, dass ja eigentlich nichts passieren konnte, es war ja alles nur virtuell, nicht echt.“

„Ich verstehe. Ihr Bein?“

„Ja, da stand in der Realität ein Stuhl im Weg und ich dann voll … Oh, Mann … hier genau, an dieser Stelle“. Meine Zufallsbekanntschaft hob sein Bein, um mir exakt die Stelle des Grenzkonfliktes zwischen Virtualität und Realität zu zeigen und setzte fort: „Ich habe mich dann gleich entschuldigt.“

„Beim Stuhl?“

„Nein. Auf dem Stuhl saß eine junge Frau. Ihr ist aber nichts passiert, bis auf den Schreck. Aber wir haben uns nach meiner Verarztung noch nett unterhalten. Sie ist Professorin am hallischen Fraunhofer Institut für Mikrostrukturen, thematisch nah an dem Intel-Thema dran, näher als die Forschungsinstitute in Magdeburg. Darf man in Magdeburg aber nicht so laut sagen.“

„Und die Frau wollte auch den ‚Classroom for the future‘ nutzen?“, insistierte ich, bevor er wieder abschweifen konnte.

„Es war schon beeindruckend zu sehen, was da auf unsere Schulen zukommt.“

„In dem Raum werden jetzt Schulklassen unterrichtet?“

„Nicht direkt. Es ist ein Raum für Lehrer und Lehrerinnen aus der Region für ‚Learning by doing‘, damit sie wissen, was es alles gibt und was sie in der Schule gebrauchen könnten. Sie lernen, um dann besser als die Schüler und Schülerinnen in den oberen Klassen oder in der Berufsschule mit der Hard- und Software umgehen zu können.“

„Hört sich auch etwas nach ‚Showroom‘ an, auf Deutsch: ‘Verkaufsraum‘.“

„Mag sein. Ja, stimmt. Jemand sprach davon, dass dieser ‚Digitalpakt Schule‘ noch bis Ende 2024 läuft, und die Gelder noch nicht ausgeschöpft wären.“

Einige Fahrgäste wurden unruhig, und mein lädierter Sitznachbar erhob sich vorsichtig. „Wir sind gleich in Magdeburg, ich muss da raus. Fahren Sie weiter?“

„Heute noch nicht, ich steige auch aus und schaue mir Magdeburg ein paar Tage an. Mich interessiert die Verwandlung von Magdeburg im Rahmen des zu erwartenden Transformationsprozesses durch die Intel-Ansiedlung. Was das mit den Leuten hier macht, auch mit den Arbeitern und Arbeiterinnen aus dem Ausland während der Bauphase. Welche Risiken oder Probleme sehen Sie für die Beschäftigten im Zuge der Intel-Ansiedlung?“

„Was meinen Sie mit Ausland?“

„Tschechien.“

„Ach so, Tschechien. Da sehe ich kein so großes Risiko. Aber warten wir die nächsten Wahlergebnisse ab.“

„Sie scheinen sich hier ja gut auszukennen. Auch mit Intel, sagten Sie?“

„Oh, da kann ich Ihnen einiges erzählen.“

Da musste ich zufassen: „Schön, dann könnten wir uns vielleicht mal bei einem Kaffee treffen und Sie erzählen mir einiges, auch wie das genau war, mit Ihrer realen Verletzung durch VR und KI. Was hätten Sie gemacht, wenn die Verletzung schlimmer gewesen wäre? Welche Versicherung wäre dann der Kostenträger für die Behandlung und die Reha gewesen?“

„Also, darüber habe ich noch nie nachgedacht.“

„Sehen Sie, das zu klären, ist nun mein Job. Da kann schnell ein vertrackter Prozess anhängig werden.“

Wir trafen uns mehrmals in den nächsten Tagen. Es wurde vertrauter, wir kamen zum Du, und ich konnte die in mir angestauten Fragen beim Bier im M2 am Hasselbachplatz anbringen:

„Jan, ich habe so viel Widersprüchliches gelesen: In der ‚Volksstimme‘ viel Jubel, dann wieder Wasser- und Bodenzweifel, in der ‚Süddeutschen‘ wird das Magdeburger Projekt verglichen mit den neuen Chip-Projekten in Dresden, München und im Saarland, die wohl näher am deutschen Markt sind und deswegen mehr Sinn machen. Joachim Hofer vom ‚Handelsblatt‘, der scheint ja ein internationaler Halbleiter-Spezialist zu sein und müsste es wissen, rät Intel, sich diese Investition in Magdeburg zu sparen, weil sie sich wirtschaftlich nicht rechnen würde. Dann bin ich wieder auf mehrere ‚Volksstimme‘-Artikel von vor einigen Monaten gestoßen, in denen es hieß, dass eigentlich alles in trockenen Tüchern wäre. Dann vor kurzem nicht nur in der ‚Volksstimme‘, aber da auf Seite eins, die Hiobsbotschaft, dass Intel in der Vergangenheit hohe Verluste gemacht hat und auch in Zukunft machen wird. Wie passt das alles zusammen?“

Jan reagierte nicht, er dachte wohl nach, und nachdem ich wieder zu Atem gekommen war, setzte ich fort: „Und wie passt dazu, dass die Intel-Kollegen die 10 großen Neubauprojekte neulich bei LinkedIn schön säuberlich aufgelistet gesehen haben, darunter auch Magdeburg, und so auf insgesamt über 100 Milliarden Dollar Investition kommen? Da schwebt für mich doch ein Fragezeichen über allem, ob das nicht zu viel des Guten ist. Spuren von Selbstzweifel sehe ich bei Intel aber nicht. Wird dir da nicht angst und bange um deine schöne, ambitionierte Giga-Chip-Fab hier? In Frankfurt/Oder wurde schon mal ein Intel-Projekt in den brandenburgischen Sand gesetzt, obwohl das Gebäude schon stand, weil eine öffentliche Bürgschaft nicht rechtzeitig kam, das kannst du nachlesen.“

„Also, erstmal, lieber Václav, ist das nicht ‚mein‘ Intel und ‚mein‘ Projekt ist es auch nicht. Selbstzweifel bei Intel sowie den lokalen Wirtschafts- und Politikleuten kann ich beim besten Willen nicht entdecken. Einzelne Meldungen und Artikel muss man genau und komplett lesen, auch wenn das manchmal mühsam und kompliziert ist. Dann löst sich der eine oder andere Widerspruch auf. Vielleicht.“

„Warum habe ich dann kein klares Bild in dieser Angelegenheit? Da ist noch allenthalben auch noch die Fachkräfteflaute! Deine Bemerkung von neulich habe ich noch in Erinnerung, dass es hier mit der Willkommenskultur besser werden muss. Mann, ich brauche eine Grundlage für meine Risikobeurteilung! Das kommt mir manchmal vor, als wenn ein großer Dampfer auf etwas zufährt und viele am Steuerrad zerren, damit es zu keiner Kollision mit dem Eisberg kommt.“

„Abwarten kann ich nur sagen, abwarten und noch ein Bier auf dem Sonnendeck des Dampfers trinken, der erst richtig Fahrt aufnimmt. Die Einspruchsfrist bezüglich der Genehmigungsunterlagen ist abgelaufen. Ende Mai ist die Verhandlung der Einsprüche, dem Ereignis angemessen, in der heiligen Halle der Johanniskirche. Ob dann eine Beichte erfolgt, Reue gezeigt wird oder mit einem Kurswechsel gebüßt wird, das wird man sehen.“

„Apropos Buße, Reue, Prozess, vielleicht sogar Strafkolonie: Kennst du eigentlich K?“

„K? Meinst du Josef K? Oder Kafka? Da ist wieder einmal ein Gedenkjahr.“

„Genau. Ich versuche auf seinen Spuren zu wandeln, aber dass diese Intel-Sache hier für mich so verschlungen und unübersichtlich wird, war nicht mein Plan. Was soll ich nach Prag berichten?“

„Sag doch, du hättest in mir einen Guide, einen Aufpasser gefunden, der dich daran hindert, zum Kern der Sache vorzustoßen, dass du nicht den Mut aufbringst, selbst der Sache auf den Grund zu gehen. Schreib, dass das wahrscheinlich von langer Hand eingefädelt worden und dass das Kennenlernen im Zug möglicherweise arrangiert, also kein Zufall gewesen sei. Der Aufpasser tue nur so, als ob er alles wisse, relativiert dies aber gleichzeitig, verweist auf die offiziellen Zeremonienmeister der Stadt, der Regierung, an die du nicht herankommen kannst, und dass du dir zugleich nicht sicher bist, dass der Guide sie tatsächlich kennt. Du müsstest ganz von vorn anfangen, brauchtest noch Zeit. Alles würde sich stetig wandeln, hat einen für dich noch nicht erfassbaren Prozess eben.“

„Die halten mich doch für verrückt!“

„Bist du ja auch, vielleicht, ein bisschen, wer weiß.“

„War unser Treffen im Zug doch nicht zufällig?“

„Václav, jetzt bist du wirklich verrückt! Du musst nur noch behaupten, dass der Zug geheime Abteile hatte, wo man Intel-Erlaubnisscheine holen muss.“

„Das ist mir zu viel. Erlaubnisscheine. Aufpasser. Ich muss jetzt ins Hotel, morgen gehts sehr früh weiter.“

„Stimmt, ja, nach Norderney.“

Wir verabschiedeten uns mit dem Versprechen, in Kontakt zu bleiben. Im Hotel konnte ich nicht einschlafen. Ich war beunruhigt. Stand wieder auf. Wanderte durchs Zimmer. Ich fühlte mich beobachtet, ausgerechnet und manipuliert. Ich hatte mit Jan über Reiseziele gesprochen. Der schwärmte, anders als ich von der Nordsee, von der deutschen Ostseeküste, von Hiddensee und Usedom. Ich warf den Computer an und recherchierte: K. war tatsächlich auch an der Ostsee gewesen, in Müritz! Ich buchte kurzentschlossen um.

Ich musste lächeln, als ich mir am nächsten Morgen im Zug Richtung Ostsee vorstellte, wie Jan mich vergeblich im Zug nach Norddeich-Mole wieder zu treffen versuchte. Natürlich „rein zufällig“.

Ich genoss die Zugfahrt. Im Schwebezustand zwischen Denken und Dämmern fuhr ich dahin, machte schon Pläne, wie ich am nächsten Tag an der Seebrücke Graal-Müritz in Erinnerungen an K. versinken würde, als jemand freundlich fragte, obwohl fast alle anderen Plätze im Wagen noch frei waren: „Sorry, ist der Platz neben Ihnen noch frei?“ 

Samstag, 9. März 2024

# 045 Literatur und Transformation

Albrecht Franke und Herbert Beesten im Gespräch, anlässlich der Lesung vom 4. März 2024 in der Stadtbibliothek Magdeburg

 

Herbert Beesten: Transformation ist das Thema meines Blogs. Passt dieses Wort überhaupt zur Literatur – denn erklärtermaßen kommen im Blog nicht nur Sachtexte, sondern eben auch literarische Texte vor.

Albrecht Franke: Wenn wir von der Grundbedeutung des Wortes ausgehen, von der transformatio, der Umwandlung, Umgestaltung, Umformung – unbedingt! In seinen „Vorlesungen zur Ästhetik“ erwähnt Hegel eine „Totalität einer Welt- und Lebensanschauung des Romans“. Es dürfte erlaubt sein, diese Totalität auf die Literatur im Ganzen auszudehnen. Besonders erzählende Techniken vermögen es, das geschichtliche Leben der Menschen bis in seine Alltäglichkeit, ja Banalität, und Intimität hinein ständig zu begleiten. Es können detaillierte, aber auch umfassende Bilder des Lebens gegeben werden. Das umfasst Historie, Geographie, Politik, Ethnologie, Geisteswissenschaft, Psychologie, Medizin, auch die Utopie, die Technik usw. Insofern spiegelt Literatur auch Veränderungen und Transformationen.

Zu denken wäre an den Bildungs- oder Künstlerroman, den Entwicklungsroman.

Ja. Wichtig für die Darstellung der Transformationsprozesse waren, besonders im 20. Jh., die Aufnahmen von dokumentarischen Materialien, Mitteln und Techniken. Wenn wir etwa an Dos Passos‘ „Manhattan Transfer“ denken. Oder, um in der Nähe zu bleiben, Edlef Köppens „Heeresbericht“, der auf faszinierende Weise Archivmaterialien verwendete und so die Aussage seines Romans gewaltig verstärkte. Das war aber vor hundert Jahren etwas ganz Neues, etwas Unerhörtes sozusagen in der Literatur. Tradierte Formen wurden umgewandelt und damit weiterentwickelt!

Hast du auch früher schon Literatur unter dem Gesichtspunkt der Transformation betrachtet?

Ich muss zugeben: So wie ich das eben gesagt habe: Nein!

Hat das mit deinem „DDR-Hintergrund“ zu tun?

Wohl nicht. Denn gerade die frühe DDR-Literatur hat ständig von Wandlungen der Menschen und Umstände gehandelt. Etwa von den Wandlungen in der Landwirtschaft, in der Politik. Interessanterweise war es vielleicht gerade diese Herangehensweise, die auch die Darstellung von Widersprüchen ermöglichte. Ich entsinne mich noch gut der zum Teil wütenden Reaktionen auf Strittmatters „Ole Bienkopp“. Oder dass man Werner Bräunigs Roman „Rummelplatz“ einfach verbot. Wie sieht das nun aber vor einem „westdeutschen“ Hintergrund aus?

Ich glaube, die Entwicklung verlief ganz ähnlich, wenngleich auch keine Bücher verboten wurden. Widersprüche in der Gesellschaft wurden gezeigt, die Nachwirkung des Dritten Reiches: Böll, Walser, Grass, Frisch; gar die „Literatur der Arbeitswelt“ tauchte auf, etwa bei Max von der Grün. Wenn das keine Transformation ist …

Jetzt erlaube mir eine Frage: In welchem Werk der Literatur findest du den Gedanken der Transformation beeindruckend verwirklicht?

Als junger Mensch hat mich das Buch „Haben oder Sein“ von Erich Fromm geprägt, so dass für mich bis heute der psychologische und gesellschaftskritische Aspekt der Transformation wichtig ist. Und wie sieht das bei dir aus?

Das großartigste Werk in dieser Hinsicht ist für mich Peter Weiss‘ „Die Ästhetik des Widerstands“.

HB Gut, jetzt aber zur ganz gegenwärtigen Transformation: Intel etc.

 

Nach einer Gesprächsidee von Albrecht Franke.

Dienstag, 6. Februar 2024

# 040 Ein Winter-Stimmungsbild vom zukünftigen Intel-Ort

Aus der Ruhe kommt die Kraft für die Bewegung

Winterruhe. Ich besuche wie vor einem Jahr (Aufwärtskompatibel? Neue Industriekultur in Magdeburg durch Intel?: # 001 Archäologie vom Ende zum Anfang – Januar 2023 (herbert-karl-von-beesten-intel-blog.blogspot.com) den Intel-Acker, den diesmal der Frost fest im Griff hat. Die Natur, scheinbar im Stillstand, wirkt in dieser Starre noch geduldiger als im milden Januar 2023. Das Gelände entere ich nicht, halte mich an das Verbotsschild: Betreten verboten! Damals markierte es noch nicht die Grenze zu dem Stück Land, das jetzt „High-Tech-Park“ oder kurz HTP werden soll, nicht mehr namens- und abkürzungslos. Eine Abkürzung, quer über das Gelände zur anderen Seite, ist mir, anders als im letzten Sommer, verwehrt. Bei dem jetzigen Feldzustand bleibe ich für mich bei der Bezeichnung „Intel-Acker“, muss doch noch an vielen anderen Stellen geackert werden, damit es zum Eldorado wird, zu einem der Technologie.

 

Fruchtfolge: Zuckerrüben, Kartoffeln, Zwischenfrucht, Hightech

Um später vergleichen zu können, fotografiere ich wie vor einem Jahr den Weg, der in dieses Gebiet führt.

Kaum wiederzuerkennen. Die Sträucher rechts und links des Weges unfrisiert, strubbliger, aber noch da. Der Weg zerfurcht, die Betonplatten im gefrorenen Matsch unter Schneeresten kaum auszumachen. Über ihn muss unterdessen einiges hinweggegangen sein.

Auf dem Acker hat der Frost in Kumpanei mit dem Schnee die Zwischenfrucht die im Herbst eingesät wurde, um dort eine kontrollierte Vegetation ohne Unkräuter zu schaffen zum Wegducken und Einknicken gezwungen. Nur an den Rändern des Ackers ist der Boden schwarzgezogen, breite Streifen ohne Vegetation, eine triste Zwischenzone, damit neue Populationen des Feldhamsters den Intel-Acker nicht besiedeln. Die sollen sich lieber nach außerhalb orientieren. Andernfalls könnten wieder Aussiedlungsmaßnahmen für sie notwendig werden, die vor allem Zeit kosten würden.


Mitten auf dem Acker entdecke ich zwei flüchtende Rehe, die, leichtfüßig über die Zwischenzone hinweg, das Privileg haben, die Kernzone doch zu betreten.

Ein stiller Ort, der im Wandel ruht, während die Transformation im Verborgenen zum Schwung ausholt.


Bodenhaftung

Warum ich immer wieder der Bördeboden-Nostalgie fröne? Wegen meiner Bodenhaftung. Über die Baustelle, die Errichtungsarbeiten, Arbeitsplätze und den Produktionsfortschritt kann ich noch Jahre berichten. Hier, mit beiden Beinen auf dem Ackerboden, spüre ich etwas von der emotionalen Verbundenheit der Magdeburger mit „ihrem“ Bördeboden. Oder will ich als Zugezogener bei den „gelernten Magdeburgern“ Sympathiepunkte sammeln? Sollte ich für sie eine Art neuer Atlantis-Geschichte schreiben die vom versunkenen Zuckerrübenland?

Vom Ackerrand aus sind kaum weitere Bewegungen oder Veränderungen auf dem Intel-Erwartungsland auszumachen. Die Masten der Hochspannungsleitung, die demnächst verlegt werden muss, noch wie angewurzelt. Sie tragen stolz die Leitungen mit ihren harmonischen Auf- und Abschwüngen.

Oder sind das schon die Girlanden für die Abschiedsfeier? Im Sucher des Teleobjektivs finde ich die zentrale Baubude von damals, auch sie einsam und verlassen. Nur der leichte Wind umschmeichelt die STRABAG-Fahne, die lautlos, zögernd, unwillig fast, mitspielt. Ist ja sonst nichts los.


Spur - Kreuzung – Begegnung - Bewegung

Verschneit und zugefroren die hin- und hergeschwungene Traktorspur im Boden der Zwischenzone. Richtung Osten, hinter der Autobahn mit immer rauschender Bewegung, zeigt mir die Dämmerung an, dass sich der Wintertag leise wegschleichen wird.

Auf dem Rückweg muss ich mich an einer Kreuzung entschließen: Wanzleben links, Magdeburg geradeaus oder nach Osterweddingen das gehört zur Samtgemeinde Sülzetal rechts. Ich muss mich für eine Richtung entscheiden und mir fällt auf: Diese drei Orte auf einem Schild. Als Bewegung aufeinander zu? Es geht doch.


Freitag, 29. Dezember 2023

# 032 Bericht und Interview im Jahr 2032 mit der neuen Stadtplanerin


Dr.in-Dipl.-Ing.in Liane Müller-Utsch

-        Vorausblick auf die Achse der Zukunft bis 2042

-        Silicon-Börde – Allee der Kommerzbauten – Hasselbachplatz

-        Stadtplanung heute. Im Spannungsfeld von Wirtschaft, Kultur und Politik

Am Klinketeich Nr. 1 in 39116 Magdeburg-Ottersleben. Dort treffe ich die neue Stadtplanerin Liane Müller-Utsch in der obersten Etage des neuen 48-stöckigen Klinke-Hochhauses. Noch unter ihrem Vorgänger haben mutige Architekten durch die beiden obersten, 100 Meter über die Halberstädter Chaussee frei herauskragenden obersten Stockwerke, dem Gebäude die Silhouette einer stilisierten Türklinke gegeben. Freilich meinen böse Volksmundstimmen, das sähe eher wie ein Galgen aus. Die Schöpfer sahen unter dem Motto: „Die Klinke in die Hand geben!“, den Turmbau als Synonym für Begegnungen, Kommunikation und Transformation. Zugleich steht er als Leuchtpylon und Kristallisationspunkt für Magdeburgs Zukunft, hier, auf halbem Wege zwischen der traditionellen Innenstadt und der Silicon-Börde.

Es ist der Vorabend des Aschermittwochs und schon fast dunkel. Der Rundblick von hier oben ist fantastisch. Am noch etwas hellen westlichen Horizont zeichnet sich das Profil des Brockens ab. Mein Blick folgt den hier vom obersten Stockwerk fächerförmigen ausgehenden grünen Laserstrahlen, die wie Trageseile einer riesigen, ausladenden Hängebrücke südwestlich von den Chips-Fabs an der Autobahn in die nordöstlich liegende Innenstadt bis zum Hasselbachplatz reichen. Dahinter der angeleuchtete Dom, etwas rechts davon das Leuchtfeuer des Albin-Müller-Turms im Stadtpark und dazwischen der angestrahlte Pylon des Strombrückenzuges. Der Halbmond darüber komplettiert das Panorama, fast schon kitschig, wäre es nicht echt. Frau Müller-Utsch sitzt mir entspannt in einem der stilechten, freischwingenden Bauhaussessel, Marke „Thonet“, bei dämmrigen Licht gegenüber, durch die bodentiefen, umlaufenden Fensterbänder unser heutiges Thema immer vor Augen.

Hasselbachplatz-Blog: Frau Doktor Müller-Utsch, Sie sind nun seit Anfang 2032 verantwortliche Stadtplanerin für den Bereich des Hasselbachplatzes bis hinüber in die Silicon-Börde bei Ottersleben. Von hier aus haben Sie das ja alles im Blick. Was werden wir sehen, wenn wir in 10 Jahren, also 2042, von hier runterschauen? Was haben Sie sich vorgenommen?

Müller-Utsch: Heutzutage muss man „Stadtplanung“ neu denken, wurde sie vor 10 Jahren eher als „Satt-Planung“, also mit zwei „t“, gelebt (lacht). Gerade für Magdeburg ist nicht erst heute, da Intel bereits die vierte Fabrik auf die grüne Wiese gestellt hat, eine neue Zeit angebrochen. Die Eröffnung der neuen Werke von Infineon und Apple zeigen, wohin es geht. Wenn Sie dann noch die Ankündigung der chinesischen Investoren im Hinterkopf haben, das neue KI-Großlabor in Langenweddingen anzusiedeln, wissen Sie, warum damals die Eingemeindung von Sülzetal ein genialer Schachzug war. „Sülzetal goes silicon valley“, war nicht umsonst 2029 der entscheidende Wahlslogan im OB-Wahlkampf.

Was ist neu an Ihrer Stadtplanungsdenke?

Noch genauer darauf schauen, was Magdeburg braucht. Unsere Stadtgesellschaft wird noch internationaler werden, als sie jetzt schon ist. Da müssen wir uns Gedanken machen, was für typische und ausschließliche Magdeburger Merkmale wir haben, um uns von anderen deutschen, aber auch internationalen Standorten, abzuheben.

Also lieber klein-klein anstatt international business?




Wir müssen etwas fürs eigene Kleine tun und das, was andere auch groß macht, nicht lassen. Wir konzentrieren uns auf die Mega-Ansiedlungen der Chipfabriken in Ottersleben und schlagen einen Brückenkopf zum Hasselbachplatz.

Geht das auch genauer?

… ich war ja noch nicht fertig! Das heißt, von den HighTech-Tempeln in der Silicon-Börde aus, in Richtung Innenstadt, sollen entlang der 4-spurigen Wanzleber- und Halberstädter Chaussee sowie der innerstädtischen Halberstädter Straße rechts und links Fast-Food-Ketten und gehobene Systemgastronomie verschiedener Couleur angesiedelt werden, kombiniert mit One-Stop-Shopping-Malls und Mega-Outlet-Centern. Da fühlt sich das internationale Publikum schon mal heimisch und sicher.

Also doch so gesichtslos wie überall?

Bis hier. Aber es geht ja weiter zum Hasselbachplatz. Break. Cut. Plötzlich eine andere Welt: Alt, rustikal, Vintage, Kiez, Chaos, Clochards, kleine Läden, rumhängende junge Menschen, Bettler, das volle Programm. Der Gegenpol zur hypermodernen geordneten High-Tech- und Business-Welt: Die Gründerzeitfassaden, Alleinstellungsmerkmale schlechthin, und die Namen: Hasselbachplatz, Plättbolzen, Goldbroiler und so weiter sind Premium-Marken, die es an keinem anderen Ort der Welt gibt. Und wenn unser Publikum dann noch diese Begriffe im richtigen Machteburjer-Slang spricht, und das wird es zweifellos wollen, dann sind die Leute hier angekommen und wollen nie wieder weg.

Am Hassel soll alles so bleiben, wie es schon seit vielen Jahren war?

Bitte nicht nur „Hassel“ sagen, sondern das richtige Wording beachten: „Hasselbachplatz“ unbedingt komplett aussprechen, sonst verwechseln die Leute das noch mit dem englischen Wort „hustle“, also „Eile“. Die Leute sollen am Platz verweilen.

Sorry, … der Hasselbachplatz soll also bleiben, wie er ist?

Nein, der hat sich ja zum Leidwesen vieler Leute in den letzten 40, 50 Jahren immer wieder verändert. Dann die Mode, vielen der Geschäfte und Läden englischen Namen zu geben. Das kennt doch das internationale Publikum aus allen Ecken der Welt zur Genüge.

An der Angebotsstruktur müsste gefeilt werden, weg von den Spätis, Shisha Bars, Barbershops, Imbiss- und Dönerbuden.

 


Das hört sich nicht nach „Feilen“ an, eher nach „Absägen“.

Wir wurden seit 20 Jahren immer wieder von vielen gedrängt, endlich dort in die Strukturen einzugreifen. Aber wenn das nicht klappt, sollte es wenigstens unverwechselbar auf Deutsch bezeichnet werden.

Haben Sie da ein paar Vorschläge?

Ja gerne: „Wasserpfeifengaststätte“ statt Shisha-Bar zum Beispiel, oder für Spät-Shops passt „Spätverkaufsstellen“ besser.

 „Curry 54“ könnte „Gaststätte mit Hausnummer 54 für Fleischspeisen mit ausländischen Gewürzmischungen“ heißen. Ein Nightclub ist wieder ein „Nachttanzvergnügungslokal“ und „Under-Cover-City-Shoe-Shop“ wieder der „Schuhmachermeister mit angeschlossenem Schuhladen im Hinterhof“.

Und die Dönerbude?

„Blitz-Gastronom für südländisches Drehspießfleisch nach Rezepten aus der türkischen Provinz Bingöl“.

Klingt kompliziert.

Deutsch ist kompliziert. Nach all dem vereinfachenden, gleichmachenden Populismus der letzten beiden Jahrzehnte brauchen die Menschen Begriffe, über die sie nachdenken, an denen sie sich inhaltlich orientieren können.

Ich wusste gar nicht, dass Stadtplanerinnen auch noch den Job der Landeszentrale für politische Bildung machen.

Sie haben Recht, ich komme vom Thema ab, ich wollte nur den älteren Magdeburger Bürgern und Bürgerinnen helfen.

Vom Populismus wegzukommen?

Nein, weil Englisch für viele immer noch ein Problem ist.

Vielleicht sollte man die guten alten früheren Kneipennamen wieder einführen: Am „M2“ würde „Weinstudio Grün-Rot“ stehen, das „Drugstore“ wird wieder „Zum Alten Dessauer“, „Delicata“ zum „Goldbroiler“ und das „Flower-Power“ könnte „Impro“ heißen.

„Impro“ klingt aber nicht so richtig deutsch.

Aber ostdeutsch. Das war die legendäre DDR-Kultkneipe mit Blues- und Rockmusik in der Liebigstraße, hat mir mein Opa erzählt.

Aber Sie bringen mich auf eine Idee: Wir machen daraus einen NeOssi-Kiez. Extra für die Neu-Ossis, die hier jetzt wohnen und sich mit unserer Region identifizieren, aber eine andere Biografie als die Alteingesessenen haben. Auf der grünen Wiese am Magdeburger Prämonstratenserberg bauen sie gerade einer mittelalterlich anmutenden Altstadt als Neu-Nachbau aus der Beton-Retorte nach. Da ist unser NeOssi-Hassel-Kiez um Längen bzw. um 150 Jahre authentischer!

Hasselbachplatz!

Hasselbachplatz?

Ja, es muss „NeOssi-Hasselbachplatz-Kiez“ heißen! Ihre Rede.

Stimmt.

Frau Müller Utsch, wären Sie bereit, mir von Ihrem Gespräch mit der Verwaltungsspitze zu berichten? Ich richte mich ganz nach Ihrem Terminkalender. Jetzt aber danke für das – wie soll ich sagen? – visionäre Gespräch.