Posts mit dem Label Essayistisches werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Essayistisches werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 31. März 2024

# 047 - Bauernregeln und KI – Im Märzen der Chip-Bauer den Spatenstich einplant … zu Basilius?

Transformation – der erste Schritt wird sichtbar

„Wie man so hört“, sagt man, soll der erste Spatenstich auf dem Bördeacker für die Intel-Ansiedlung in einigen Monaten mit einem großen Event zelebriert werden. So steht auf diesem Stück Land der nächste, erstmals klar sichtbare Transformationsschritt bevor.

Magdeburg, „Stadt der Verwaltung und Wissenschaft“, erweitert sich auf dem Bördeacker zu einem großen Hightech-Produktionsstandort. So verdrängt dort künftig der KI-Protagonist Intel die heutige Agrarindustrie, wo bis vor siebzig, achtzig Jahren die Bauern in kleinteiliger Landwirtschaft noch nach Bauernregeln und dem Hundertjährigen-Kalender gelebt haben.

Symbolbild Spatenstich - Bild: Herbert Beesten und KI 

Bauernregeln und KI – geht das zusammen?

Die Bauernregeln für das Wetter, von dem die Landwirtschaft besonders abhängig war, basieren auf Beobachtungen über viele Generationen hinweg. Im März, dem Übergang vom Winter in die Vegetationsphase, in die Zeit des Säens, weisen erfahrungsgemäß bestimmte Wetterphänomene auf die Wetter- und Klimabedingungen bis in den Herbst, die Erntezeit, hin.

Für Wetterprognosen wird in Forschungsprojekten auch mit KI experimentiert. Beide, KI und die Bauernregeln, basieren auf vielen Informationen. In einem Fall auf jahrhundertlanger Beobachtung der bäuerlichen Landbevölkerung, im anderen auf Hunderten, vielleicht auch auf Tausenden Gigabyte Daten aus Wetter- und Klimamodellen. Das eine basiert auf neuronalen Netzen im menschlichen Gehirn, das andere auf künstlichen, mit Software nachempfundenen neuronalen Netzen.

Was liegt also näher, als mit Bauernregeln auf das bislang landwirtschaftlich, aber zukünftig von einem der weltweit größten KI-Protagonisten genutzte Areal zu schauen und auch Bauernregeln einem Transformationsprozess zu unterziehen?

Damit man früher die Wetterbeobachtung an bestimmten „Stichtagen“ nicht verpasste, wurden Namenstage – also Tage im kirchlichen Kalender, an denen bestimmte Heilige besonders verehrt wurden – als „Trigger“ verwendet. Man brachte die Namen der Heiligen oft in Reimform mit den Wetterereignissen zusammen. So konnte man sie sich besser einprägen.

 

März-Events und Weichenstellung

So habe ich meine Märzbeobachtungen in Sachen Intel, anders als in meinem Beitrag aus dem März 2023 (Aufwärtskompatibel? Neue Industriekultur in Magdeburg durch Intel?: # 008 Im Märzen der Bauer … ein Fließtext aus 2023 (herbert-karl-von-beesten-intel-blog.blogspot.com),  mit Bauernregeln zusammenzubringen versucht , um daraus eine Prognose für den weiteren Verlauf der Intel-Ansiedlung abzuleiten.

Am 13. März 2024 fand der „Zukunftstag BVMW“, also des Bundesverbandes Mittelständische Wirtschaft, in der Magdeburger Johannis-Kirche statt. Ein Bekannter, der daran teilgenommen hat, berichtete mir:

Bild: BVMW - LinkedIn-Seite

Es wurde diskutiert, inwieweit die mittelständische Wirtschaft in der Magdeburger Region vor allem bei der Fachkräftebeschaffung gegenüber Intel das Nachsehen haben könnte. Der Vorsitzende des BVMW, Christoph Ahlhaus, die Magdeburger Wirtschaftsbeigeordnete Sandra-Yvonne Stieger und der Direktor der Arbeitsagentur Magdeburg, Matthias Kaschte, zeigten Perspektiven auf, wie Fachkräftebeschaffung nebeneinander möglich sein kann, wobei sie auch unabhängig von der Intel-Ansiedlung schwieriger werden wird. Es wird ein stärkerer Wettbewerb um Fachkräfte entstehen, dem sich auch die mittelständische Wirtschaft stellen muss. Es wurde deutlich, dass Intel überregional und international Ausschau hält. Unter Bauern könnte man sagen: „Das Gras beim Nachbarn ist immer grüner.“

Vom 11. bis zum 15. März veranstaltete die Microtec Academy in der Handwerkskammer Magdeburg das Seminarprogramm „Einführung in die Fertigungs- und Prozesstechnologien der Halbleitertechnik“. Das war zugleich die Einstiegsveranstaltung der Uni Magdeburg in die überregionale und überbetriebliche Berufsbildungsakademie, speziell für die Mikro- und Nanotechnologien. Ich konnte am 14. März einen interessanten, auf Deutsch gehaltenen Vortrag, der Intel-Mitarbeiter Werner Ertle und Peter Baumgartner mit dem Titel „The world of semiconductor“ verfolgen. Die Überschrift hörte sich zwar allgemein an, es war aber keine Marketingveranstaltung, sondern es wurden realistisch (man war unter Fachleuten) viele Details erläutert, und man verwies auf die hohen Ansprüche, Möglichkeiten, aber auch Grenzen und Probleme der Halbleiterfertigung. Zum Teil auch mit Bezug auf die Pläne für Magdeburg. Natürlich wurde das Moore’sche Gesetz als „Chip-Bauer-Regel“ zitiert, aber Gordon Moore (noch) nicht in den Himmel gehoben.

In der Pause traf ich Giulia Bolognesi (Aufwärtskompatibel? Neue Industriekultur in Magdeburg durch Intel?: # 043 Giulia und Latte macchiato am Hassel, EDTA bei Intel (herbert-karl-von-beesten-intel-blog.blogspot.com) und auch Jörg Vierhaus (Aufwärtskompatibel? Neue Industriekultur in Magdeburg durch Intel?: # 026 Artikel über Partikel aus der Grauzone im September 2023 (herbert-karl-von-beesten-intel-blog.blogspot.com) wieder.

Beim Lunch am Stehtisch waren, neben Peter Baumgartner von Intel, ein weiterer Referent des Seminars, Gerfried Zwicker, vom Fraunhofer-Institut für Siliziumtechnologie in Itzehoe, sowie zwei junge Frauen aus süddeutschen Chip-Zulieferbetrieben meine Gesprächspartner. Meine spontane Frage an eine der jungen Damen, ob sie sich demnächst einen Job bei Intel in Magdeburg vorstellen könnte, beantwortet sie freiweg mit: „Auf jeden Fall!“ Gerfried Zwicker konnte ich mit der Vermittlung eines Kontaktes zu einer Human-Resources-Ansprechpartnerin bei Intel helfen, weil er einen taiwanesischen Doktoranden betreut, der einen Job in der Halbleiterindustrie sucht. Ich wies auch auf die aktuellen und sich in letzter Zeit häufenden Stellenanzeigen bei LinkedIn und XING hin, mit denen Intel Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen weltweit schon jetzt für den Standort Magdeburg gesucht werden. Die strategische Personalsuche für Magdeburg setzt bei Intel also schon frühzeitig ein.

Die Bauernregel am 15. März, am Ende der Veranstaltung: „Lukretia feucht, Kornsäcke leicht.“ Da das Wetter an diesem Tag sonnig und trocken war, müssten also perspektivisch die Säcke der Chip-Bauer schwer werden.

Am 22. April 2024 endet*) die öffentliche Auslege- und Einspruchsfrist zum Intel-Bauvorhaben „Errichtung einer Halbleiterfabrik“. Für den 21. März lautet die Bauernregel: „Soll das Korn gar üppig stehen, soll man es an St. Benedikt säen.“ Dann schauen wir doch mal, wie die Saat am 29. Mai 2024 bei der öffentlichen Verhandlung von Einsprüchen in der Magdeburger Johannis-Kirche aufgeht. Auch hier hilft eine Bauernregel: „Mai kühl und nass, füllt's dem Bauern Scheun und Fass.“ Ja, Wasser ist wichtig!

Eine Regel für den Chip-Bauer könnte heißen: „Sind der Einsprüche nicht zu viel, so ist dann Intel bald am Ziel.“

Am 25. März 2024 fand im Rahmen der Vortragsreihe „Wissenschaft im Rathaus" die Veranstaltung „Intel und die Magdeburger Hochschullandschaft“ statt.
Tino Grosche moderierte ein Gespräch mit der Rektorin der Hochschule Magdeburg-Stendal, Prof. Dr. Manuela Schwartz, und dem Rektor der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Prof. Dr.-Ing. Jens Strackeljan. Die Veranstaltung war gut besucht, 80 bis 90 Personen, und wenn ich mich umschaute, war es eine bunte „Besuchermischung“. Es gab eine Menge Fragen aus dem Publikum. Es überraschte nicht, dass der Rektor und die Rektorin die Ansiedlung insgesamt positiv sehen und davon ausgehen, dass alles glatt läuft. Die Rekrutierung von qualifiziertem Personal wird als die größte Herausforderung gesehen, die die Hochschulen nicht allein bewältigen können. Meine Frage, wie die notwendige Transformationsfähigkeit der Magdeburger gesehen wird, wurde von der Rektorin sinngemäß so beantwortet: Das könnte in zwei Phasen geschehen. Einmal durch Toleranz und Verständnis bei der unmittelbar anstehenden Errichtung der Fabriken mit Baustellen und Verkehr sowie Angebote an das internationale Baustellenpersonal. Zum anderen, in der zweiten Phase, wenn die Fabrik steht, mit der notwendigen Entwicklung einer internationalen Willkommenskultur. Zugleich wurde klar, dass die Hochschulen von Intel „nichts geschenkt bekommen“, dass also Gegenleistungen erwartet werden. Die Investition in die Ausbildung von Mikrotechnologen, z. B. für das Lehrpersonal, auch viele Millionen Euro für Gebäude mit einem großen Reinraum, muss wesentlich von der Uni, sprich aus den Landeskassen von Sachsen-Anhalt erbracht werden.

„Kann das Projekt noch scheitern?“, fragte eine ältere Dame aus dem Publikum. Wenn das geschähe, dann wäre Magdeburg als großer Industrieproduktionsstandort auf Jahrzehnte „verbrannt“. Von der Erwartung, dass Magdeburg einmal 300.000 Einwohner haben könnte, müsste man sich dann verabschieden, meinte der Rektor.  

Die Bauernregel für diesen hellen und klaren 25. März klingt für das Intel-Projekt hoffnungsvoll: „Mariä Verkündigung hell und klar, ist ein Segen fürs ganze Jahr.“ Also schließen wir uns den optimistischen Äußerungen der beiden Hochschulvertreter an, die sie am Anfang der Veranstaltung äußerten.


Welches Werkzeug ist das richtige für den ersten Spatenstich?

Der erste Spatenstich für die Intel-Ansiedlung sollte natürlich stilvoll, dem Bördeacker angemessen, mit einem Rübenspaten oder. einem Rübenheber vollzogen werden. Das ist ein spezielles Werkzeug, mit dem früher die Bauern in der Börde die Zuckerrüben einzeln aus dem Boden heben konnte. Diese Werkzeuge gab es für Rechts-, Links- oder Beidfüßler, so dass sich die Politiker und Politikerinnen die richtigen Rübenspaten entsprechend ihren politischen Orientierungen aussuchen könnten.

Rübenspaten und Rübenheber - www.alltagskulturen.lvr.de 

Wann ist der richtige Zeitpunkt für den ersten Spatenstich?

Mit meiner Chip-Bauer-Regel nach vorn schauen: „Sind Magdeburg und Umland im April und Mai sich einig, wird der Weg zur Silicon-Börde nicht weit, nicht steinig.“

Nach den eingereichten, öffentlichen Unterlagen für die Teilgenehmigung soll ab dem 1. Juni der Bau beginnen, also ist im Juni der offizielle „Erste Spatenstich“ zu erwarten. Aber an welchem Tag? Welche Bauernregel sollte zur Anwendung kommen, um der Sache einen gesegneten Verlauf zu verschaffen?  

Die Lösung in zwei Schritten: Mittels KI sollte eine Wetterprognose für den Juni erstellt werden und in einem zweiten Schritt sollte das mit Bauernregeln korreliert werden.

Alte Bauernregeln für den Juni

·         13. Juni: „Wenn an St. Anton gut Wetter lacht, St. Peter viel Wasser macht."

·         15. Juni: „Hat St. Veit starken Regen, bringt er unermesslichen Segen.“

·         20. Juni: „Hat Margarete keinen Sonnenschein, dann kommt das Heu nie trocken ein.“

·         24. Juni: „Regnet es am Johannistag, regnet es noch 14 Tag."

·         29. Juni: „Peter und Paul hell und klar, bringt ein gutes Jahr.“

 

Ein guter Zeitpunkt wäre zwischen St. Anton und St. Veit, also der 14. Juni, der „Basilius-Tag“, weil sowohl bei lachender Sonne am 13. Juni als auch bei Regenwetter am 15. Juni die Auswirkungen in den Bauernregeln jeweils positiv beschrieben werden. Außerdem hat einer der voraussichtlichen Spatenstecher, Kanzler Olaf Scholz, am 14. Juni Geburtstag, Intel-CEO Pat Gelsinger, dessen zweiter Vorname Paul ist, der am 13. Juni gefeiert wird. Das alles könnte man mit „Reiner“ kombinieren, dem Namenstag unseres Ministerpräsidenten am 17. Juni.

St.Basilius - Bild: Wikipedia

Basilius (330 - 379) auch „der Königliche oder der Große“ genannt, ist ein wichtiger Heiliger und hat auch zu seiner Zeit Transformationsprozesse vorangetrieben (siehe auch Basilius der Große – Wikipedia). Damit ist er ein guter Patron für diesen Tag.

 

Neue Chip-Bauer-Regeln zum Basilius-Tag

Alles konzentriert sich auf die Zeit um den Basilius-Tag, also den 14. Juni. So möchte ich, damit alles gut läuft, für diesen Tag einige neue innovative Chip-Bauern-Regeln zur Auswahl stellen:

·         Regnet‘s auf Basilius, wird‘s für den Chip-Bauer ein Genuss.

·         Ist‘s Wetter auch beim Spatenstich rau, stört‘s nicht den Semiconductor-Bau.

·         Scheint zu Basilius die Sonne auf den Spaten, kann der Chip-Bauer durchstarten.

·         Bringt zu Basilius Olaf Millionius zum Pat-Paulinius,

Bördebezwinger Gelsinger, wird zum Chip-Fab-Bringer.

·         Der Landesvater Reiner, präsidial wie keiner

hält Reden, groß wie Basilius,

schippt Bördeboden, mit Genuss,

lässt sich loben, preisen, schlägt im Boden Schneisen.

·         Erster Spatenstich bei Strich-Regen? Werter Basilius, bring trotzdem Chip-Segen!

Vielleicht wird noch später im Hundertjährigen Intel-Kalender der Spatenstichtag nur rot angestrichen? Denn bis zu einem St.-Gelsinger-Day oder einen St.-Simone- oder gar einem St. Olaf-Tag – das ist ein weiter und harter Weg. Und wer will in Zeiten des Klimawandels schon wetterprognostische Regeln aufstellen?

Obwohl… wenn das von Pat Gelsinger formulierte Ziel, dass die Intel Corporation weltverändernde Technologien entwickelt, um das Leben aller Menschen auf dem Planeten zu verbessern, erreicht wird, dann wird er sich der Aufnahme in höhere Sphären wohl kaum entziehen können.

*) Am 6.4.24 korrigiert: Irrtümlich stand hier der 22. März 2024

Samstag, 9. März 2024

# 045 Literatur und Transformation

Albrecht Franke und Herbert Beesten im Gespräch, anlässlich der Lesung vom 4. März 2024 in der Stadtbibliothek Magdeburg

 

Herbert Beesten: Transformation ist das Thema meines Blogs. Passt dieses Wort überhaupt zur Literatur – denn erklärtermaßen kommen im Blog nicht nur Sachtexte, sondern eben auch literarische Texte vor.

Albrecht Franke: Wenn wir von der Grundbedeutung des Wortes ausgehen, von der transformatio, der Umwandlung, Umgestaltung, Umformung – unbedingt! In seinen „Vorlesungen zur Ästhetik“ erwähnt Hegel eine „Totalität einer Welt- und Lebensanschauung des Romans“. Es dürfte erlaubt sein, diese Totalität auf die Literatur im Ganzen auszudehnen. Besonders erzählende Techniken vermögen es, das geschichtliche Leben der Menschen bis in seine Alltäglichkeit, ja Banalität, und Intimität hinein ständig zu begleiten. Es können detaillierte, aber auch umfassende Bilder des Lebens gegeben werden. Das umfasst Historie, Geographie, Politik, Ethnologie, Geisteswissenschaft, Psychologie, Medizin, auch die Utopie, die Technik usw. Insofern spiegelt Literatur auch Veränderungen und Transformationen.

Zu denken wäre an den Bildungs- oder Künstlerroman, den Entwicklungsroman.

Ja. Wichtig für die Darstellung der Transformationsprozesse waren, besonders im 20. Jh., die Aufnahmen von dokumentarischen Materialien, Mitteln und Techniken. Wenn wir etwa an Dos Passos‘ „Manhattan Transfer“ denken. Oder, um in der Nähe zu bleiben, Edlef Köppens „Heeresbericht“, der auf faszinierende Weise Archivmaterialien verwendete und so die Aussage seines Romans gewaltig verstärkte. Das war aber vor hundert Jahren etwas ganz Neues, etwas Unerhörtes sozusagen in der Literatur. Tradierte Formen wurden umgewandelt und damit weiterentwickelt!

Hast du auch früher schon Literatur unter dem Gesichtspunkt der Transformation betrachtet?

Ich muss zugeben: So wie ich das eben gesagt habe: Nein!

Hat das mit deinem „DDR-Hintergrund“ zu tun?

Wohl nicht. Denn gerade die frühe DDR-Literatur hat ständig von Wandlungen der Menschen und Umstände gehandelt. Etwa von den Wandlungen in der Landwirtschaft, in der Politik. Interessanterweise war es vielleicht gerade diese Herangehensweise, die auch die Darstellung von Widersprüchen ermöglichte. Ich entsinne mich noch gut der zum Teil wütenden Reaktionen auf Strittmatters „Ole Bienkopp“. Oder dass man Werner Bräunigs Roman „Rummelplatz“ einfach verbot. Wie sieht das nun aber vor einem „westdeutschen“ Hintergrund aus?

Ich glaube, die Entwicklung verlief ganz ähnlich, wenngleich auch keine Bücher verboten wurden. Widersprüche in der Gesellschaft wurden gezeigt, die Nachwirkung des Dritten Reiches: Böll, Walser, Grass, Frisch; gar die „Literatur der Arbeitswelt“ tauchte auf, etwa bei Max von der Grün. Wenn das keine Transformation ist …

Jetzt erlaube mir eine Frage: In welchem Werk der Literatur findest du den Gedanken der Transformation beeindruckend verwirklicht?

Als junger Mensch hat mich das Buch „Haben oder Sein“ von Erich Fromm geprägt, so dass für mich bis heute der psychologische und gesellschaftskritische Aspekt der Transformation wichtig ist. Und wie sieht das bei dir aus?

Das großartigste Werk in dieser Hinsicht ist für mich Peter Weiss‘ „Die Ästhetik des Widerstands“.

HB Gut, jetzt aber zur ganz gegenwärtigen Transformation: Intel etc.

 

Nach einer Gesprächsidee von Albrecht Franke.

Montag, 26. Februar 2024

# 043 Giulia und Latte macchiato am Hassel, EDTA bei Intel

Café „Square“ 

Treffpunkt 10:30 Uhr, Café „Square“ am Hassel ‒ im Schatten des Plättbolzens, in dem sich zurzeit die Magdeburger Intel-Dependance befindet ‒ für mich günstig fußläufig zu erreichen, ich wohne um die Ecke. „Fußläufig“, kommt mir in den Sinn, ist eigentlich „Verwaltungssprech“, aber darum soll es heute gerade nicht gehen, ich will doch möglichst locker wirken bei der Verabredung mit Giulia Bolognesi.

Mir fällt ein, dass ich kein Zeichen mit ihr vereinbart habe, an dem sie mich erkennen kann. Ich schaue mich vor dem und im Café um. An zwei Tischen jeweils zwei junge Frauen, die Studentinnen sein könnten. Eine schaut auf, die sich vorher auf Englisch mit ihrer Tischnachbarin ausgetauscht hat. Ich gehe hin und frage, ob wir verabredet seien. Sie ist irritiert. Ich versuche es mit Englisch. Sie schaut sich verunsichert um. Etwa nach Hilfe? Ich versuche, den Namen auszusprechen, den ich für einen spanischen oder italienischen halte. Meine Gesprächspartnerin hatte bei der Verabredung geschrieben, dass sie nicht so gut Deutsch spricht, aber nichts über ihre Nationalität. So versuche ich es mit der vermeintlich spanischen Variante: Giulia, am Anfang mit einer Art Rachenlaut, das klänge dann wie ein hartes Chulia [Xulia], was mir als Münsterländer besonders gut gelingt. Aber das löst bei beiden weiter Kopfschütteln, ja Abwehrgesten aus. Ob sie mich für einen alten CIS-Mann halten, der plump Annäherungen versucht? Ich bin überhaupt nicht locker. Ich verzichte auf weitere Kontaktversuche. Sie wird schon kommen, sage ich mir, immer wieder nach draußen schauend. Die junge Frau hinter der Selbstbedienungstheke, die mich nach meinen Wünschen fragt, vertröste ich: Gleich muss meine Verabredung hier sein.

 

Italienisch-Lektion in Magdeburg

Da tritt Giulia auch schon zur Tür herein. Ihr offener und suchender Blick trifft mich, sie lächelt, wir sprechen uns in Deutsch an, bestätigen durch einen Händedruck unser gegenseitiges Erkennen. Das hat schon mal geklappt. Sie hat sich wegen der Hassel-Baustelle etwas verspätet. Wir belegen mit unseren Taschen und Jacken einen Zweiertisch am Fenster und begeben uns zur Theke, um unsere Bestellungen aufzugeben: Für mich einen Chai-Latte, aber bitte aus der Dose mit dem grünen Etikett. Meine Gesprächspartnerin bestellt einen Latte macchiato. Das ist eine gute Gelegenheit, noch an der Theke, auf unsere Getränke wartend, ihre Nationalität zu klären: Giulia soll eher wie Julia ausgesprochen werden, also nicht das spanische Ch [X], erklärt sie. Sie ist Italienerin. Ihren Familiennamen Bolognesi soll ich wie „Bolognese“ bei Spaghetti aussprechen, also ohne „G“, aber am Ende mit „I“. Sie komme übrigens tatsächlich aus dem klassischen Bolognese-Land, aus der Nähe von Bologna zwischen Milano und Florenz.

Wie kommt man hier als Italienerin klar? Nun ja, ganz klassisch italienisch schmeckt der Magdeburger Latte macchiato nicht. Die Milch-Espresso-Milchschaum-Schichtung war nicht gelungen. Aber es gibt einige italienische Restaurants in Magdeburg, in einem jobbt sie zwei Tage die Woche als Kellnerin, die machen es richtig, weil sie eine Original-Espresso-Maschine haben. Sie erklärt mir das alles auf Deutsch, sie ist seit 4 Semestern hier. Ihr Deutsch ist besser als mein Englisch, stelle ich fest, als wir mit den Getränken unser Tischchen aufsuchen.

Unser Gespräch fließt. Ich frage, und sie antwortet ausführlich, aber ohne mäandernd abzuschweifen. Mir geht es um das Intel-Projekt. Unser Kontakt wurde von ihrer Professorin, Gilian Gerke, von der Hochschule Magdeburg-Stendal vermittelt, deren Wege sich mit meinen hin und wieder kreuzten. Zuletzt anlässlich des TASIMA-Kongresses im September, den Gilian Gerke hauptsächlich verantwortete (siehe Blogbeitrag aus dem Oktober 2023 - https://herbert-karl-von-beesten-intel-blog.blogspot.com/2023/12/28-oktober-2023-der-raum-die-o-tone-die.html).

Über Gerkes und die Posts von Intel-Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bei LinkedIn wurde ich auf ein gemeinsames Projekt der Hochschule mit Intel aufmerksam, und Giulia Bolognesi war eine der Studierenden, die da dabei waren.

 

Feelings

Was mich dabei interessiert? Natürlich das Projekt selbst, aber auch das „Drumherum“, das Feeling, ihre Erfahrungen. Sie ist immer noch begeistert: Erzählt, wie es in München in der Intel-Deutschlandzentrale auf dem Campeon war (siehe auch meine Chip-Visite Besuch dort, Februar 2023 - https://herbert-karl-von-beesten-intel-blog.blogspot.com/2023/12/07-chip-visite-im-februar-2023.html ), sie schildert das Vorgehen bei der Abschlusspräsentation im Intel-Werk in Irland. Dabei kennt Giulia sich in der Welt aus, lässt sich nicht so schnell beeindrucken, sie kennt das coole Milano, hat ein Jahr in den Staaten gelebt, ist immer wieder im hippen Berlin. Die praktische Zusammenarbeit in einem weltweit agierenden Technologiekonzern von innen kennenzulernen und dort eingebunden zu sein, das sei schon etwas Besonderes. Die Intel-Leute würden fundiert und sehr planvoll vorgehen, wollen alle mitnehmen, Widersprüche gelten nicht als Eklat, weil man einer gemeinsamen Vision folgt.

 
Campeon Munich - Studierende, Professoren und Professorinnen der Magdeburger Hochschule - Foto Privat

EDTA

Welche Aufgabe hat Intel gestellt? Es sollte eine Lösung entwickelt werden, um die Chemikalie „EDTA“ (Ethylendiamintetraessigsäure), die nach der Chip-Produktion im Abwasser zu finden ist, entfernen zu können. Im Original: „Removal of EDTA from semiconductors wastewater“. Es wurden 5 Teams aus Studierenden im 4. Semester des Studiengangs „Sustainable Resources, Engineering and Management“, kurz StREaM (Nachhaltige Ressourcen, Ingenieurwesen und Management) gebildet, die ein Semester lang intensiv in einem Wettbewerb um die beste Lösung gerungen haben.

Warum alles in Englisch? Es ist ein internationaler Studiengang. Das heißt, dass alle Veranstaltungen in englischer Sprachs stattfinden. Giulia Bolognesi erzählt, dass in ihrer Studiengruppe 15 verschiedene Nationalitäten zu finden sind. Sie zählt die meisten auf, aus Europa, Asien, Afrika, Naher Osten, alles vertreten.

Gruppe der Hochschule Magdeburg-Stendal bei Intel in Dublin
Foto: Louis Deacy - Intel-Campus 
 


Warum hat sie gerade diesen Studiengang gewählt? Weil sie sich für die Umwelt engagieren möchte und sich für Anwendungen von „Grünen Technologien“ interessiert, sodass sie nach dem Erreichen des Bachelors viele Möglichkeiten haben möchte, was und wo sie arbeitet. Oder sie studiert weiter. Dieser Studiengang sei in dieser Kombination einzigartig, und in Deutschland gibt es nur an zwei, drei Hochschulen etwas Ähnliches, aber nichts Identisches. Deswegen kam nur Magdeburg infrage.

Zurück zur EDTA-Aufgabe. Auf welche Lösung kam ihre Gruppe? Es wurde intensiv recherchiert, sowohl in der technischen als auch in der rechtlichen Literatur. Wöchentlich mussten die Teams den beiden betreuenden Professoren, Frau Dr.-Ing. Gilian Gerke und Herrn Dr.-Ing. Benedikt Lamontain, die Zwischenergebnisse präsentieren. Es ergaben sich tatsächlich 5 verschiedene theoretische Ansätze für eine kleintechnische Lösung. Giulias Gruppe entwickelte eine Lösung mit einer Nano-Membran, einer speziellen, hauchdünnen Folie, die beim Vorbeiströmen von Abwasser EDTA zurückhält. Eines der Probleme war, die Folien wieder zu reinigen, damit sie länger effektiv funktionieren. Aber theoretisch wäre „nur“ eine neunundneunzigprozentige Reinigung bei diesem Lösungsansatz möglich. In Deutschland müsste die EDTA-Reinigung, anders als in anderen europäischen Ländern, einhundertprozentig sein.

 

Finish in Dublin


Prof. Dr. Manuela Schwartz (Rektorin), die Preisträger Robert Rehberg, Giulia Bolognesi und Milan-Lars Lorenzen (Studierende und Scholarships), Bernie Capraro (EU Talent Development Programme Manager, Intel) Foto: Ruth Callinan UCD-Campus









Und wie ging der Wettbewerb aus? Mit der Präsentation des Lösungsansatzes bei Intel in Irland war ihre Gruppe unter den drei besten. Drei Studierende – darunter auch Giulia – haben als Preis ein Stipendium von Intel erhalten. Das hilft ihr, neben einem weiteren Stipendium, finanziell über die Runden zu kommen. Dazu trägt auch ihr Job als Kellnerin in einem italienischen Restaurant bei. Ein günstiger Nebeneffekt: Sie kann aus ihrer „englischen Blase“ herauskommen und bei der Bedienung von Magdeburgern weiter Deutsch lernen.

Kann sie sich vorstellen, bei Intel zu arbeiten? Nach dem, was sie von Intel kennengelernt hat: Die Menschen, die Technologie, die langfristige Strategie und der Umgang mit- und untereinander: Ja, sie kann es sich gut vorstellen. Auch mit der Stadt Magdeburg freundet sie sich an.

 

Perspektive

Giulia Bolognesi wird ihren Bachelor wahrscheinlich Ende 2025 in der Tasche haben. Dann noch ein Masterstudium? Das Timing könnte für Intel-Magdeburg gut passen. Sie weiß, dass ihr in vielen Bereichen die Welt offensteht, als gut ausgebildeter Frau, international erfahren und engagiert. Vielleicht Teil der zukünftigen Magdeburger jungen Generation? Das erinnert mich an meine Hoffnungen, meinen Idealismus von einst. Der Nachwuchs ist am Zuge. Man sagt auch „capacity building“ dazu, nicht nur bei Intel. Wir brechen auf.

Beim Verlassen des Cafés treten wir auf den aufgerissenen Hassel-Square, Ende Februar weit entfernt von einem mediterranen Hassel-Piazza-Feeling. Ich zeige ihr, bevor wir uns trennen, noch den benachbarten Plättbolzen, den kleineren, provinziellen, aber drei Jahre älteren Bruder (oder die Schwester?) des New Yorker Flatiron-Buildings. Aber was die Magdeburger mit „Plättbolzen“ meinen, ihr das zu vermitteln, gelingt mir nicht.


Wieder allein unterwegs, fällt mir ein, dass ich nicht, wie sonst üblich, weder mein Aufnahmegerät noch meinen Fotoapparat benutzt habe. Ich wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Danach war unsere Unterhaltung so anregend, dass ich nicht mehr daran gedacht habe. Das intensive Gespräch habe ich aber in guter Erinnerung, wie man lesen kann, und an ein oder zwei Fotos komme ich vielleicht noch.

Mittwoch, 29. März 2023

# 008 Im Märzen der Bauer … ein Fließtext aus 2023


Unaufgeregt soll meine Begleitung der Magdeburger Transformation sein. Das ist schwer. Ich beginne meine März-Betrachtungen am 22. Tag des Lenzmonats. Die aktuelle Gemengelage ist alles andere als unaufgeregt:

In Medien, die Köpfe und in die ukrainische Erde gräbt sich der Krieg täglich tiefer ein, die Künstliche Intelligenz wird gehypt und ist so präsent, dass man „KI“ nicht mehr erklären muss. Die Inflation ist weiter auf hohem Niveau und wird zusätzlich vom Bankenkrisen-Gespenst getrieben, das von der „Silicon-Valley-Bank“ losgelassen wurde. Der Stillstand des Reiseverkehrs – Bahn, Bus und Flugzeug –für einen Tag ist da nur eine Petitesse am Rande und wahrscheinlich schon nicht mehr in Erinnerung. Heute ist „Weltwassertag“, der spült den allgegenwärtigen Klimawandel wieder zurück in das natürliche Gewissen. Die Sinnfrage der Intel-Subventionen schwappt über die Grenzen von Sachsen-Anhalt und verwickelt Politik und Wissenschaft in oft scharfe Wortgefechte und mediale Diskussionen, die Kontrahenten tragen harte Bandagen. Man will aber jetzt auch miteinander reden.

Ein Aufregerthema, der Magdeburger City Tunnel, als unendliche Baugeschichte empfunden, wird am 1.April eröffnet, er ist befahrbar und wird vielleicht neuen lokalen Schlagzeilen Raum geben.  Derweil läuft sich der „Spiegel“ warm mit der Frage: „Intel: ist das >>Wunder von Magdeburg << in Gefahr?“

Der Frühlingsanfang zeigt sich mit Leckeis-to-go-Flaneuren in einem „Volksstimmeaufmacher“. Der Frauentag und Equal-Pay-Day wurde, mit Gleichberechtigungsblüten verziert gefeiert und hat wieder für ein Jahr Pause.

Es ist gut, dass ich auf den Anspruch verzichtet habe, die Gemengelagen rund um Intel in diesem Blog vollständig durchdringen zu wollen.

Zurück zum reduzierten Blickwinkel auf den Bördeacker, wo sich natürliches Wasser und Künstliche Intelligenz treffen.

 

Und der Zug rollt …

Kleinstbahnhof, eingleisig, an nicht elektrifizierter Strecke. Aber der kann ja noch wachsen.

Mein Blick schweift über den frischgepflügten Acker gegenüber. Da verläuft eine Hochspannungsfreileitung, wahrscheinlich zur Stromtrasse gehörend, die wegen der Intel-Ansiedlung verlegt werden soll. Mein Blick geht von rechts nach links, den Horizont entlang, der von ausgedehnten Logistikhallen begrenzt wird. Die in verschiedenen Grau- und Anthrazittönen gehaltenen Bemalungen der Fassaden fügen sich in das Farbspiel zwischen weiß-grauem Wolkenhimmel und Schwarzerde des Ackers ein.

Mein Rundblick vom Bahnsteig des Osterweddinger Bahnhofes hält dort inne, wo die kilometerlange schnurgerade Gleisstrecke sich scheinbar im Unendlichen auflöst. Von dort wird gleich mein Zug kommen. Vielleicht wird dahinten, rechts, einmal ein Gleis zum Intel-Werk abzweigen.

Eine neue Perspektive auf den Schienenstrang gewinne ich mit meinem Fotoapparat. Durch das aufgezogene Zoom sehe ich alles zwanzigmal näher. Auch wenn ich auf dem kleinen Display nicht alle Details erkenne. Ich kann die Kamera nicht so ruhig halten, dass das Bild bei dieser Vergrößerung nicht verwackeln würde. So werde ich zuhause mit KI das Verwackeln reduzieren und auf dem großen Bildschirm viele Details entdecken. Zum Beispiel, dass der Schienenstrang nicht im Unendlichen, sondern zwischen einigen Gehölzen und in einer Linkskurve verschwindet. Ich lege die Kamera an einer Strebe des Wartehäuschens an, um eine stabile Videoaufnahme meines Zuges zu erreichen. Ich halte fast die Luft an, um meine Körperbewegungen nicht auf die Kamera zu übertragen. Da kommt der Zug, nicht mit bloßem Auge, aber durch die Vergrößerung in Display der Kamera zu erkennen. Ich sehe ihn lautlos auf mich zufahren, er hat etwas Bedrohliches.

Da rollt es, geisterhaft-lautlos, unaufhörlich, weil nach Fahrplan, auf einer Zeitschiene, unaufhaltsam auf einen zu, geht unweigerlich seinen vorgezeichneten Gang. Unaufhaltsam. Hier der „Abellio“-Diesel-Triebwagen, dort das Intel-Projekt, man muss sich auf das Einsteigen einstellen, das Ticket lösen und zur Kontrolle bereithalten.

Im herangezoomten Bild ist der Zug scheinbar kaum in Bewegung, obwohl wahrscheinlich noch 80 bis 100 km/h schnell. Der Lokführer hat vielleicht gerade den Motor mit einem „Schnell-Aus-Knopf“ entkuppelt und gleichzeitig in den Leerlauf geschaltet.

Flash-back

So kenne ich es noch von meinem Vater. Er war Lokführer, als er mich als Junge auf seinen Dienstfahrten ab und zu mitnahm, im „VT-24-Dieseltriebwagen“. „Schnell-Aus-Knopf“ drücken, noch rollen lassen, dann ging es ans Bremsen. Es ist eine Kunst, einen Zug auf den Meter genau zum Halten zu bringen. Mein Vater sagte mal, dass sein Arsch mit der Lok oder dem Triebwagen verwachsen wäre, dass er das im Gefühl habe. Und kurz bevor der Zug steht, zwei, drei Sekunden vorher, schnell die Bremse komplett lösen, damit es keinen Ruck gibt.
Ob es heute noch so ist, weiß ich nicht, aber so habe ich es meiner siebenjährigen Enkeltochter Lia neulich erklärt. Vielleicht wird heute alles automatisch mit KI gemacht, die Zielkoordinaten liegen fest, ein Algorithmus bremst zentimetergenau und ruckfrei. Aber von dieser nüchternen Variante erzähle ich ihr später einmal, wenn sie ganz in der neuesten Welt angekommen ist. Jetzt lieber die romantische Variante mit ihrem Urgroßvater.
Da gibt es noch viele Geschichten von meinen Mitfahrten zu erzählen: Ich als kleiner Junge auf der riesigen Schnellzug-Dampflok 03 mit Heizer bis nach Norddeich-Mole. Von den quälerisch-- schnaufenden Güterzugloks mit zig Wagen Kohle vom Ruhrgebiet nach Emden, dann mit Kiruna-Eisenerz beladen wieder zurück. Ein männerfaustgroßes Eisenerzstück habe ich heimlich mit nach Hause genommen, es hat mich in meinen Kinderjahren begleitet.

Geschichten vom Dieselmonster V-200. Als Vierzehnjähriger durfte ich selbst damit „abfahren". 2200 PS „unter meinem Arsch" - mit ohrenbetäubendem Lärm, Schütteln und Vibrieren. Abgefahren!

Die Geschichte von dem Problem, das mein Vater hatte, als ich auf dem Bock der E-Lok durch den Bahnhof Osnabrück-Hasetor rauschte – das Ausfahrtsignal stand ja schon auf „Fahrt“. Er hatte mich dabei immer im Visier, aber nicht bemerkt, dass wir hätten halten müssen.


Alte Geschichten vom Ende der 60er-Jahre. Aber so hat Lia ihren Urgroßvater besser kennengelernt. So eine Mitfahrt ist heute undenkbar. Erst als ich damals den Kumpels auf dem Schulhof davon erzählte, sie so viele Fragen hatten, jeder dieses schwere Eisenerzstück selbst wägend in der Hand haben wollte, ahnte ich, dass diese Mitfahrten etwas Besonderes gewesen sein mussten. Eigentlich wäre ich – wenn der Vater „auf Arbeit war“ – lieber zuhause geblieben, ohne ihn. Aber das werde ich meiner Enkelin später 
erzählen

 

Da kommt etwas auf einen zu

Auf dem Display meines Apparates wird die Zugfront langsam größer. Ich höre die ersten Fahrgeräusche, das Anbremsen. Ich verkleinere die Brennweite des Zooms. Hinter mir ertönen die Warnglocken der automatischen Bahnschranken. Ich behalte den Zug im Auge, schwenke etwas nach rechts, die nachfolgenden Wagen kommen ins Bild. Da Es sind sogar zwei Triebwageneinheiten gekoppelt. Auch ohne Lautsprecherdurchsage mache ich mich bereit.

Ich bin der einzige Passagier, der einsteigt. Heute nur eine Station Richtung Magdeburg, wegen Bauarbeiten. Ab Dodendorf Umstieg in den Schienenersatzverkehr, so jetzt die Lautsprecheransage. Der Zugbegleiter wird auf dem Fußweg zum Bus zum kameradschaftlichen Beistand und dann zum freundlichen Bus-Reiseführer. Im Magdeburg werden wir vom „Reisenden-Lenker“, so die offizielle Bezeichnung, weiterdirigiert. Verabschiedet sich die Bahn wieder von den manchmal etwas unglücklich klingenden englischen Begriffen? Vielleicht sollte auf dieser Strecke, die möglicherweise auch zum Intel-Gelände führt, ein Welcome-Travel-Guide (WTG) mitfahren.

Wie kam ich nach Osterweddingen?

Im Juli letzten Jahres veranstaltete ich am Magdeburger Domfelsen ein „Open-Air-Public-Hearing“ meines 2021 entstandenen Hörspiels „Der Elbe-Ebbe-Algorithmus“. (http://www.herbertbeesten.de/Hoerspiel.mp3). Sein Inhalt ist eine fiktive Reportage von einem Event, das anlässlich des Trockenfallens der Elbe stattfindet

Es entwickelten sich an Ort und Stelle Gespräche und Diskussionen. Unter anderen sprach mich Jörg Claus an, ein sportlich großgewachsener Mann, Anfang 60, der mit einem Kollegen einen großen landwirtschaftlichen Betrieb führt, für den Wasser eine wichtige Rolle spielt. Er sprach davon, dass darüber nachgedacht werde, die 60% Wassergehalt der Zuckerüben bei der Weiterverarbeitung zurückzugewinnen und wieder für Bewässerungszwecke – genauer gesagt: zum Beregnen – zu verwenden. Mir kam gleich ein Bewässerungs-Perpetuum mobile in den Sinn. Mit dem gleichen Wasser die nächste Rübengeneration aufzuziehen. Aber dazu reicht wohl die Menge nicht.

Unser Gespräch war angeregt, und es stellte sich heraus, dass Jörg Claus in vielen Gremien und Gesprächskreisen mitarbeitet, in denen „Wasser in der Landwirtschaft“ immer wieder auf den Tagesordnungen steht, seit einem Jahr natürlich auch im Kontext mit der Intel-Ansiedlung. Es würde heißdiskutiert, intensiv beraten, und vieles müsste entschieden werden. Ich könne ihn gerne ansprechen, wenn ich noch Fragen hätte, und er überließ mir seine Visitenkarte.


Cruisen

Ich komme auf das Angebot vom Sommer zurück: Wir treffen uns an einem frühlingshaften Märzmorgen in Magdeburg, um gemeinsam nach Osterweddingen zu fahren, wo sich die Zentrale seines landwirtschaftlichen Betriebes befindet.

Wir machen einen Umweg. Jörg Claus kreuzt mit seinem SUV durch das Intel-Areal. Nicht alle Wege sind befestigt, einige matschig, hier und da von Traktoren und Baggern zerwühlt. Dann wieder fester Untergrund, der mit tiefen, regenwassergefüllten Schlaglöchern übersät ist. Das Umfahren gelingt ihm nicht immer, das Auto schaukelt wie auf Wellen. Ich begreife, dass ein SUV in der Landwirtschaft sinnvoll ist. Hier braucht es ein „Schiff“.

Auf meine Frage, ob er Land- oder Stadtmensch sei, antwortet er mit einem Lächeln: „Eher Stadtmensch“. Er ist studierter Landwirt, kommt aus bäuerlichen Verhältnissen. Seine Eltern hatten einen, für heutige Verhältnisse, kleinen Hof. Mit einem Partner hat er Teile einer LPG, den Kern des heutigen Betriebs, Anfang der 90er-Jahre übernommen. Heute bewirtschaften sie gemeinsam mit 10 Mitarbeiter*innen eine Gesamtfläche von 2.700 Hektar. Auch für heutige Verhältnisse ein großer „Hof“. 1.600 Hektar davon liegen rund um Osterweddingen bis nach Schönebeck hinüber. Ein kleiner Teil davon war bis vor Kurzem (auf dem Intel-Areal) noch ihr Eigen und wurde verpachtet. Aber als das Intel-Projekt noch unter dem Codewort „Steuben“ geheim war, wurde es der Intel-Fläche rechtlich zugeordnet.

Ich erfahre, dass das eigentliche Intel-Areal auf Magdeburger Grund nicht 400, sondern 420 Hektar groß ist und die angrenzenden Flächen in den Gemeinden Sülzetal und Wanzleben für die Zulieferbetriebe weitere 600 Hektar ausmachen. Es geht also um insgesamt rund 1.000 Hektar!

Wir steigen hin und wieder für einen Rundumblick aus. Ich bekomme auf alle Fragen freimütige Antworten von Jörg Claus. Auf meine spontane Erkundigung nach dem Sinn und Zweck eines Betonsockels mit Leitungsstutzen auf dem Intel-Gelände erfahre ich, dass es sich um einen Auslass der Magdeburger Trinkwasserleitung handelt, die vom Wasserwerk aus der Colbitz-Letzlinger Heide kommt und bislang den Landwirten der Beregnung diente, vor allem von Kartoffeln und Rüben. Die Magdeburger Kapazitäten reichten bislang aus und gleichzeitig war so der notwendige Wasseraustausch in den Leitungen gewährleistet. Eine Win-Win-Situation. Beregnung mit Grundwasser ist in diesem Gebiet seit 2017 Jahren problematisch und waren zeitweise nicht mehr gestattet.

 

Der bäuerliche März im Wandel:

Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt,

er pfleget und pflanzet all’ Bäume und Land.

Er ackert, er egget, er pflüget und sät,

und regt seine Hände gar früh und noch spät.

So heißt es im deutschen Liedgut seit Mitte des 19.Jahrhunderts.

Meinen Kindern habe ich in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts die Variation von Frederick Vahle von der Schallplatte vorgespielt:

„Im Märzen der Bauer den Traktor abschmiert.

Der Bauer ist sauer, wenn er ausgenutzt wird.

Der Traktor, der ist nützlich und der Traktor, der ist stark,

doch kostet das Stahlvieh fast achtzehntausend Mark.“

Das muss dann wohl ein kleiner „Trecker“ gewesen sein, so Jörg Claus, und er meint, dass so ein „Stahlvieh“ heute zweihunderttausend Euro koste, und das sei nicht der größte und teuerste, und dass sich auch sonst viel geändert habe. Software und KI spielen eine große Rolle.

Das regt mich Anfang des 21. Jahrhunderts zu folgender Textvariante an:

Im Märzen der Bauer das Update einspielt.

Der Traktor von selbst fährt, zum GPS schielt.

Beim Düngen und Ernten, da hilft ihm KI,

so spart er auch Kosten und bei der Chemie.

 

Szenen heutiger Landwirtschaft:

Die Traktorfahrerin erhält, nachdem sie sich mittels Tablet eingeloggt hat, einen Auftrag, z.B. eine bestimmte Ackerfläche mit einem Grubber zu bearbeiten. Ein Grubber funktioniert wie eine Egge, arbeitet aber tiefer im Ackerboden. Sie gibt ein, welches Gerät sie benutzt, fährt mit dem Navi-System zum Acker und schaltet auf GPS um. Nachdem sie eine Grundlinie abgefahren hat, fährt der Traktor autonom stundenlang über den Acker. Hin und her, inklusive der Wenden an den Ackerrändern. Die Fahrerin ist nur bei Störungen und für die Rückfahrt gefordert. Die übergeordnete Software und KI hält alle Personal- und Maschinenkosten für jeden einzelnen Hektar der Fläche fest. Das gilt auch für weitere Bearbeitungsschritte, wie Düngung und Einsatz von Herbi- und Fungiziden, bis hin zu den Ernteerträgen von Weizen, Kartoffeln, Zuckerüben, Raps, Roggen und Mais. So ist der genaue Ertrag in Tonnen und Gewinn oder Verlust für jeden einzelnen Hektar dank KI feststellbar. In Euro und Cent.

Der landwirtschaftliche Unternehmer und die Unternehmerin kann so die Auswirkungen von unterschiedlichen Bodenqualitäten und Feuchtigkeit innerhalb eines Ackerstückes untersuchen.

Mit diesen Analysemöglichkeiten wird zurzeit ein Pilotprojekt vorbereitet, in dem der im Intel-Areal abzutragende fruchtbare Ackerboden in anderen Flächen möglichst in der direkten Nachbarschaft eingebracht werden könnte, um dort Fruchtbarkeitsschwachstellen auszubessern. Das würde einen Unterschied von mehreren Tonnen Ertrag je Hektar ausmachen können. Und hätte zugleich den Vorteil, dass der Transport wegen der kurzen Wege nicht so aufwendig wäre.

Saisonal ist die Technik in längeren Phasen rund um die Uhr in Zwölfstundenschichten im Einsatz, damit sich der hohe Kapitaleinsatz rechnet.

Dass der Betrieb von Jörg Claus und seinem Geschäftspartner reine Pflanzenproduktion betreibt, war für Intel wichtig, denn „abgehende Gase“ von Tieren in der Umgebungsluft könnten die Chip-Produktion erheblich stören.

 

Wünsche-Route

Mein Gesprächspartner nimmt mich, den landwirtschaftlichen Laien, gedanklich mit in die tieferen Erdschichten des Bördeackers auf der Suche nach Wasser. Er erklärt mir anschaulich das flächendeckende Problem von zu wenig Feuchtigkeit. Der Grundwasserstand ist generell in dieser Region niedrig und hat sich seit dem sehr trockenen Sommer 2018 immer noch nicht erholt. Ich erfahre, welche Pflanzen damit besser oder schlechter zurechtkommen und dass die Erträge je Hektar insbesondere bei den Kartoffeln und Zuckerrüben trotz Beregnung in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen sind. Andere landwirtschaftliche Unternehmungen mussten deswegen, denn die Pachtpreise sind hoch, schon aufgeben. Im Moment sei an der Oberfläche zwar alles nass und matschig, aber das Drama spiele sich in ein bis zwei Metern Tiefe ab. Dort hat sich der Boden durch die Trockenheit verfestigt, ist quasi fest zusammengebackt, und von den wassersuchenden Wurzeln kaum mehr zu durchdringen. Andererseits ist die Kapillarwirkung in dieser Schicht gestört, und so funktioniert die Verbindung vom tieferen Grundwasser noch oben nicht mehr richtig. Auf meine Frage, ob das durch länger anhaltende Niederschläge, mehrere feuchte Jahre, wieder in Ordnung kommen könnte, wenn es sie denn geben sollte, also, ob diese Störung reversibel sei, zuckt Jörg Claus die Schultern. Eine Frage, die er nicht beantworten kann.

Bevor wir auf das Gelände seines Betriebes zum ersehnten Kaffee einbiegen, cruisen wir noch durch das bei Osterweddingen entstandene Industrie- und Logistikgebiet. Mit ca. sechshunderttausend Quadratmetern überbauter Lager- und Produktionsflächen ist das Industriegebiet – in etwa so groß wie das Intel-Areal – quasi ausgebucht. Verständlich, dass für Intel-Zulieferbetriebe weitere neue Flächen in den Nachbargemeinden Sülzetal und Wanzleben dazukommen sollen.

Landwirtschaft muss heute neu gedacht werden, so mein Gastgeber. Damit meint er nicht nur die modernen Maschinen oder Software- und KI-Anwendungen. Auch im landwirtschaftlich konservativen Umfeld ist der Klimawandel nicht mehr zu leugnen. Das Thema Wasser/Feuchtigkeit hat gerade in Sachsen-Anhalt höchste Priorität. Mein Gesprächspartner zählt sich zu der ersten Generation, die eindeutig die Folgen des Klimawandels erlebt und wirtschaftlich spürt und sieht sich zugleich als die letzte Generation, welche die schlimmsten Folgen noch mildern kann, bevor der Kipppunkt erreicht wird.

Wie geht es für meinen Gesprächspartner weiter? Mit Luthers Wort vom Bäumchenpflanzen? So ähnlich, denn ich erfahre, dass seine Tochter sich anschickt, in seine Traktorspuren zu fahren, wie auch der Sohn des Kollegen. Das hört sich bodenständiger und traditioneller an als in der Hightech-Industrie. Da kenne ich keinen Fall, auch nicht aus meiner nächsten Umgebung, wo die Firmengründer und Gründerinnen eine Nachfolge in der Familie gefunden hätten.

Etwas hinkt meine zeitgemäße Metapher von den Traktorspuren allerdings. Als wir von dem modernen Maschinenpark sprachen, erzählte Jörg Claus die Anekdote, dass er die modernen Traktoren eigentlich gar nicht mehr fahren könne, dass er einmal, als er einspringen sollte, schon Probleme hatte, die Maschine überhaupt zu starten.

 

Von Kartoffelchips zu Computerchips

Die zuletzt auf dem Intel-Acker geernteten Kartoffeln sind gegenüber früher trotz künstlicher Beregnung kleiner geworden, so dass die geforderten Pommes-frites-Längen oder die erforderlichen Querschnitte für die Kartoffel-Chip-Produktion in Oschersleben zum Teil nicht mehr erreicht wurden. Dafür gilt für Computerchips das Gesetz, dass sie immer winziger werden müssen. Gemeinsam ist der hohe Wasserbedarf.

Der Grund ist, dass je aufgetragener Schicht auf den Silicon-Wafers mehrfach und ausführlich mit sehr reinem Wasser - unter Zusatz chemischer Mittel - die Oberflächen gespült werden müssen. Anschließend erfolgt eine Trocknung. Das wiederholt sich bei bis zu 200 Schichten.

Nicht erst seit der in diesem Monat vorgestellten Wasserstrategie der Bundesregierung und des Welt-Wassertages (mit mehrtägiger Wasserkonferenz der UNO in New York) und nicht erst im Hinblick auf die Ansiedlung von Intel verstärkt sich rasant die Notwendigkeit, über das Wassermanagement der Region nachzudenken. Grundwasserbrunnen für landwirtschaftliche Beregnung kommen immer weniger infrage, die Wasserentnahme aus der Bode ist mittlerweile verboten. Trinkwasser aus der Leitung – wie bislang im Bereich des Intel-Ackers praktiziert – ist „zu schade“ und wird in Zukunft wegfallen, weil nicht nur Intel dieses saubere Wasser benötigt. Was bleibt? Neue Speicherbecken für Winterwasser aus dem Harz, mehr Regenrückhaltebecken, der Bau von Zisternen und die intensive Nutzung von Elbufer-Filtrat? Das Wasser-Perpetuum-mobile für heutige Ansprüche ist trotz künstlicher Intelligenz noch nicht erfunden. Ich habe nachgefragt, bei ChatGPT.

Zur Quelle

Woher kommt unser Magdeburger Trinkwasser? Aus dem Wasserwerk in Colbitz. Was wird da angezapft? Über viele Förderbrunnen das Grundwasser. Woher kommt das Grundwasser? Aus versickerndem Regenwasser und dem umgebenden Flusssystem der Ohre.

Ich habe nochmal nachgesehen und am letzten Märzwochenende einen Sonntagsspaziergang im Einzugsbereich des Wasserwerkes bei Colbitz unternommen, den „Großen Lindenweg“ entlang.

Der Laubwald wirkt urwüchsiger, unkultivierter als andere Wälder, die ich kenne, es gibt auch umgefallene, nicht von Motorsägen niedergestreckte, vermodernde Bäume. Ich mühte mich auf schmalen, feuchten Pfaden zwischen ihnen