Sonntag, 31. Dezember 2023

# 034 Die Bescherung im Dezember 2023 ‒ Jahresrück- und Ausblick

Buckauer Lametta

Seit einem Jahr betreibe ich den Blog „Aufwärtskompatibel? Neue Industriekultur in Magdeburg!" Der Blog sei etwas unorthodox, meinten einige Leser. Wegen der technisch ungewohnten Umsetzung als Web-Seite mit PDF-Dokumenten? Oder war es wegen der unterschiedlichen Formen und Inhalte?

Die technische Umsetzung in einen „klassischen“ Blog, der aufgeräumter, strukturierter ist und übliche praktische Blog-Funktionen aufweist, habe ich nun zum Jahresende umgesetzt, er ist unter dem Link  https://herbert-karl-von-beesten-intel-blog.blogspot.com/ ab sofort zu erreichen. Parallel werde ich den Blog aber auch auf der Webseite http://herbertbeesten.de/Magdeburger-Industriekultur-Transformation.htm für diejenigen fortführen, die Bedenken gegen Google-basierte Anwendungen haben. Inhaltlich soll es so abwechslungsreich wie bislang bleiben. Neben eher journalistisch geprägten Beiträgen reizt es mich weiter, verschiedene literarische Genres, wie Storytelling, Parabel, Satire etc. zu bedienen und das Blog-Thema aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu beleuchten. Mal laut und penetrant, dann zurückhaltend abwägend. Humor, Ironie und Fantasie, gepaart mit technisch-sachlichen Hintergründen, sollen weiterhin das Profil prägen. Das hört sich doch gut an, oder? Der mündige Leser oder die gleichfalls mündige Leserin wird entscheiden können, was ernsthaft gemeint, was Vision ist oder was meiner Fantasie entspringt.  

Die Ausgangsfrage - Die Wunschlisten

Aufwärtskompatibel bedeutet zum Beispiel in der IT-Branche, dass bei der Weiterentwicklung von Software das Programm auch noch mit alten Daten und Projekten funktioniert und zugleich neue Funktionen und Möglichkeiten bereithält. Kennen Sie das Gefühl, wenn es nach einem Update plötzlich nicht so ist? Dieses Gefühl sollte die Magdeburger nach der Intel-Ansiedlung möglichst nicht beschleichen.

Rückwärts- oder Abwärtskompatibilität gibt es zwar auch, allerdings scheint aus meiner Sicht die anstehende Vorwärtsentwicklung in Magdeburg unumkehrbar zu sein, wenn man der in Magdeburg stark vertretenden Intel-Protagonisten-Fraktion glaubt. Ich werde weiter beobachten, was da wie passiert und zu antizipieren versuchen, wohin die Reise der Magdeburger gehen kann. Neben den Chip-Fabs stehen zum Beispiel Sport-, Sozial- und Kultursponsoring durch Intel auf der Magdeburger Wunschliste, wie auch innerstädtische ÖPNV-Verbesserungen bis zum Autobahnring um Magdeburg samt weiterer Elb-Querung.

 

Ahnungen im bisherigen Blog 2023

Ich bin kein Prophet. Aber durch meine Nähe zum Thema keimt schon etwas früher die eine oder andere Vorahnung auf. So war schon im März-Blog nachzulesen, dass die Einrichtung eines weiteren Wasserwerkes an der Elbe wahrscheinlich ist. Im August wurde schon fiktiv auf den Einstieg von Intel beim FCM zurückgeblickt. Mit der „Intel-Mania“ im April satirisch-fiktional aufgedeckt, dass sich möglicherweise eine Undercover-Intel-Lobby-Group gebildet hat. Im September gab es so Nützliches wie einen kleinen Crash-Kurs über Halbleitertechnik im Uni-Reinraum. Meine Mahnung, dass man sich auch mit der Technik selbst auseinandersetzten muss, wenn man mitreden will, war hoffentlich nicht zu oberlehrerhaft. Die literarischen Storys über den Temponauten Kalle im Januar und den Schwermaschinenbau-Ingenieur Hermann zeigten im August, wie es um die Aufwärtskompatibilität der älteren Generation steht.

Meine Mai-Idee, das Resümee meiner Teilnahme an Versammlungen zum Thema Intel in Oschersleben und Wanzleben in Form einer gestörten Funkverbindung darzustellen, sehe ich im Nachhinein als Prophezeiung der schwieriger werdenden Kommunikation der beteiligten Gemeinden mit Magdeburg, die später im November/Dezember offen zutage trat.

 

Über den Tellerrand

Bei einem so großen internationalen Projekt – hier soll immerhin eine Gesamtsumme investiert werden, die größer ist als alle 33 Magdeburger Stadthaushalte zusammen seit der Wiedervereinigung – war es mir wichtig, mich auch überregional umzuschauen. So konnte ich im Februar über meine Münchener Chip-Visite aus dem Dunstkreis der Intel-Deutschland Zentrale berichten, im Juli beschreiben, was den amerikanischen Journalisten Sam Gurwitt an dem Intel-Thema interessiert. Wie schauen andere auf Magdeburg? Inwieweit ist das mit der notwendigen Willkommenskultur kompatibel? Wie das gelingen könnte, zeigte ich im Juni mit „Wie man einem Amerikaner das deutsche Kleingartenvereinswesen erklärt“.

 

In den Medien: Frohe Nachrichten, Hiobsbotschaften und die Intel-Aktie

Das Auf und Ab des Intel-Themas in den Schlagzeilen der Magdeburger „Volksstimme“ wurde mit Beispielen monatlich festgehalten und festgehalten und machte offenkundig, dass nicht nur „bad news“, sondern auch gute Nachrichten zur Intel-Ansiedlung als „good news“ dienen können, die Rückenwind für Magdeburg und die Region versprechen.

Blickt man über den lokalen medialen Horizont hinaus, gibt es auch Gegenwind: Im „Handelsblatt“ schlägt am 22.12.2023 ein Leser bei der Frage nach Sparmaßnahmen für den Bundeshaushalt die Halbierung der Intel-Subvention vor (Link: Debatte: Diese Sparmaßnahmen würde die Handelsblatt-Leserschaft favorisieren). Ähnlich wird am gleichen Tag als Kommentar im Deutschlandfunk der fehlende soziale Ausgleich bei der CO₂-Rückvergütung bemängelt, weil mit den Ersparnissen nun 10 Milliarden Euro für Intel mitfinanziert werden müssen (Link: Kommentar zum Klimageld - Ampel scheut die Auseinandersetzung (deutschlandfunk.de).

Als Lektüre zum technologisch-wirtschaftlichen Komplex sind besonders die Artikel von Joachim Hofer vom „Handelsblatt“ zu empfehlen, den ich bei seinen Recherchen in Magdeburg kennenlernen konnte. Einen guten Überblick bietet zum Beispiel sein Artikel vom 14.12.2023, in dem die aktuelle weltweite Position von Intel in dem technologischen Marktsegment beschrieben wird. (Link: Halbleiter: Intel will mit neuem Chip zu AMD und Nvidia aufschließen (handelsblatt.com).

Sucht man in der „Süddeutschen Zeitung“ Artikel zu „Intel“, gibt es im Zeitraum vom 1.12. bis 23.12.2023 allein vierzehn Artikel, in denen es auch um die Ansiedlung in Magdeburg geht. Das hat – auf den Umfang bezogen – fast schon „Volksstimme“-Niveau. In den Artikeln gibt es andere Perspektiven. Es lohnt auch ein Blick auf den Intel-Börsenzettel: Ein Jahresplus in 2023 von über 80% – allerdings von einem niedrigen Niveau aus – bestätigt die für den Halbleitermarkt typische-hohe Volatilität, zugleich aber auch die derzeitigen Erwartungen von Investoren. Mit einer Marktkapitalisierung (Wert aller Aktien nach aktuellem Kurs) von über 200 Milliarden Euro zählt Intel weltweit zu den Top-50 Unternehmen.


Verantwortung

Quelle: Wallstreet Journal
Die Intel-Ansiedlung in Magdeburg mit den damit verbundenen Subventionen bedeutet, dass viele Magdeburger und Sachsen-Anhalter, auch zukünftige, zahlreiche Vorteile haben werden. Viele Menschen in Deutschland und Europa beneiden uns darum, und wenn wir ehrlich sind, hätten wir andere Regionen auch beneidet, wären wir zweiter Sieger geworden.

Denken wir daran, dass das Geld durch die neuerlichen Sparbeschlüsse der Regierung nun an anderen neuralgischen Stellen fehlt und einige der ausgewiesenen Volkswirtschaftler die Sinnhaftigkeit der Intel-Subventionen kritisch sehen.

Daraus folgt die Verantwortung, dass das Projekt für die Region tatsächlich langfristig Nutzen bringen muss, dass wir es aufmerksam begleiten und uns um Ausgewogenheit bemühen müssen, sowohl aus wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Sicht. Wir dürfen es also nicht „vermasseln“! Mit „Wir“ meine ich die politisch Verantwortlichen, engagierte Gruppen, Interessenvertreter, Einzelpersonen und natürlich auch mich selbst. Auch wenn viele von uns keinen direkten Einfluss auf Entscheidungen haben, sollten man mit Selbstvertrauen in jedem Teil der Stadtgesellschaft die Mitverantwortung begreifen. Es ist ein riesiges, komplexes und anspruchsvolles Projekt, wo es nicht nur einfacher Lösungen bedarf. Mischen wir uns ein! Es wird trotzdem Momente geben, da Vertrauen für die direkt beteiligten Entscheider und Entscheiderinnen aufzubringen sein wird. Das wird nur dann funktionieren, wenn Transparenz bezüglich der Hintergründe und Entscheidungen herrschen wird.

 

Was steht in 2024 an?

Wie man aus vertraulichen, gut unterrichtet genannten Kreisen hört, soll neulich eine LKW-Ladung Akten für die Genehmigung und Förderung der Intel-Ansiedlung bei der zuständigen Behörde, dem Landesverwaltungsamt in Halle, abgeladen worden sein. Ich hoffe, dass die Papierform nur eine formale Voraussetzung ist und dass parallel einige Terabyte Daten das Einscannen der Akten überflüssig machen. Es darf erwartet werden, dass die Unterlagen zügig durch einen komfortablen Onlinezugang öffentlich gemacht werden. Der bislang übliche Zeitraum für so eine Genehmigung betrug zwei Jahre plus x. Wenn wir noch 2024 den Baustart erleben möchten, muss der vielzitierte „Deutschland-Turbo“ eingeschaltet werden. Ich vermute, dass viele genehmigungsrelevante Dinge schon vorab zwischen den Genehmigungsbehörden, der Politik und Intel geklärt worden sind oder noch werden, um zeitraubende Regelschleifen zu minimieren. Das ist auch okay so. Das Projekt kommt also 2024 in die konkrete Phase, in der die Karten auf dem Tisch liegen und so vielen Spekulationen der Boden entzogen wird: Endlich wird greifbar, wie hoch der Wasser- und Energiebedarf ist, wie viel Bördeboden tatsächlich transformiert und wie groß die versiegelte Fläche sein wird. Und: Welche Stoffe und chemischen Substanzen werden in der Produktion eingesetzt und wie ist die Qualität des Abwassers? Es sind engagierte Bürger und Bürgerinnen als auch Fachleute und Institutionen aufgerufen, sich unabhängig die vorliegenden Pläne und deren Umsetzung anzusehen. Mit einigen dieser Fachleute werde ich sprechen und deren Schlussfolgerungen in den Blog aufnehmen. Ich werde an Versammlungen teilnehmen und meinen Blog dafür als Echoraum anbieten.

Daneben interessiert mich weiter das gesellschaftliche, kulturelle und soziale Umfeld, wie der Arbeits- und Wohnungsmarkt. Auch: Wie wird das Thema künstlerisch reflektiert? Außer im Kabarett habe ich bislang nichts gehört. Wie geht es mit dem Intel-Sponsorship weiter? Intel wird dadurch sicher viele SCM- und FCM-Fans auf seine Seite ziehen.

Vielleicht kann mein Blog dazu beitragen, die Magdeburger Chip-Kompetenz weiterzuentwickeln, ohne dass es zu ernst oder staubtrocken zugeht. Ich freue mich, wenn es wieder Gastbeiträge gäbe, wie etwa den vom Münchener Dr. Franz Will im September 2023 mit der schönen Überschrift: „Nur die Paranoiden überleben“.

 

Lesungen aus dem Blog und Diskussion

Die Tradition, möglichst jeden ersten Montag im Monat um 17 Uhr eine öffentliche Lesung und Diskussion zum aktuellen Blog in der Stadtbibliothek Magdeburg anzubieten, soll fortgeführt werden. Es ist geplant, neben mir als Autor jeweils einen Fachmenschen zu einem Thema einzuladen. Die nächsten Termine: 5.2.2024, 4.3.2024, 6.5.2024 und 3.6.2024.

 

Der Kreis schließt sich

Intel Mistel-Bogen in Magdeburg
Im Januar-Blog 2023 berichtete ich von meinen archäologischen Fundstücken, gemacht in einer Buckauer Industriebrache aus der Zeit der ersten großen Magdeburger Transformation zur „Stadt des Schwermaschinenbaus“. Es handelte sich um verrostete Metallspäne von Drehbänken, mit denen ich als „Buckauer Lametta“ meinen Weihnachtsbaum Ende Dezember 2023 geschmückt habe. Am gleichen Tag entdeckte ich beim Gang durch das nasse Magdeburg an der Kreuzung Breiter Weg/Ernst-Reuter-Allee den weihnachtlichen Lichterglanz eines Mistelbogens mit Intel-Logo und dem strahlenden Schriftzug „Happy to be in Magdeburg“. Der Bogen ist geschlagen. Mistel, ein mythisches Gewächs, Zauberpflanze und Glücksbringer. Bei „zu viel Mistel“ nicht so gut für den Wirtsbaum. Ein gutes Omen für eine Beziehung ist, wenn man sich unter dem Mistelzweig küsst. Es ist aber nicht einmal ein Gerücht, dass sich dort unter dem Mistelbogen unsere Oberbürgermeisterin Simone Borris und der Intel-CEO Pat Gelsinger geküsst haben sollen. Haben sie nicht! Aber so etwas wie eine Ehe gehen Magdeburg und Intel trotzdem miteinander ein.

 

Danke

Zu guter Letzt möchte ich mich noch bei den Förderern und Sponsoren dieses Blog-Projektes

-        der Stiftung Unserer Lieben Frauen  www.stiftung-kulf.de/,

-        dem Kulturbüro der Landeshauptstadt Magdeburg – www.Magdeburg.de,

-        der WoBau Magdeburg - www.WoBau-Magdeburg.de,

-        und dem Lions Club Magdeburg - Kaiser Otto I. www.lions-Magdeburg.de

bedanken. Ganz herzlichen Dank auch an Albrecht Franke aus Stendal für die gute Unterstützung und die vielen Hinweise, die weit über die Aufgaben eines Lektors hinaus gingen.

Samstag, 30. Dezember 2023

# 033 Volksstimme Schlagzeilen im Dezember 2023 - Jahresstatistik

  •  Weiter warten auf Entlastung für Ostelbien Warum trotz Ratsbeschluss bisher keine Planung für Ost-Umgehung läuft.
  • Lesung: Intel-Blog mit Herbert Beesten
  • Lindner steht zu Förderung für Intel
  • Intel füllt Kalender der guten Taten
  • Boom für kleine Apartments
  • In 2 Stunden 20 nach Hamburg Sachsen-Anhalts Verkehrsministerin fordert mit Blick auf Intel noch mehr.
  • Intel holt sich Hilfe von Siemens
  • Kippt der neue Intel-Radweg wegen knapper Kasse?
  • Kommentar: Nicht auf die Brust tätowieren lassen
  • Bund bekennt sich zu Intel Haseloff erleichtert: Ampel bleibt bei 10 Milliarden Euro Zuschuss.
  • Sorge um den Sudturm
  • Zwei Radwege für ein Ziel Die Magdeburger Verwaltung wollte die Fahrrad-Schnelltrasse Richtung Intel wegen Sparzwängen zunächst nicht bauen
  • „Wir brauchen den Mut, alles auf den Prüfstand zu stellen“
  • Elbwasser für Intel? Seit Jahrzehnten wurde in Magdeburg kein Wasserwerk mehr gebaut. Doch die neuen Chipfabriken müssen versorgt werden.
  • Kommentar: Auf der Suche nach dem richtigen Weg
  • Intel: Land will GmbH gründen
  • Intel will den SCM und FCM Unterstützen US-Chipriese kündigt Kooperationen mit den
  • sportlichen Aushängeschildern an.
  • Kommentare: Intel setzt erste Duftmarken
  • Leserbrief: Es gibt eine Rettung für die Salbker Seen
  • Intel-Park: Hoffen auf Einsparungen Das Land will den High-Tech-Park erschließen.
  • Was funkelt wofür?
  • Wirtschaft vor Sorgenjahr 2024 Energiepreise, Bürokratie, kaum Investitionen
  • „Sichtbare Fortschritte“ bei Intel Wirtschaftsminister Schulze erwartet, dass es nächstes Jahr beim Chipriesen richtig losgeht.
  • So geht es mit den Arenen weiter
  • Bürgersorgen zur Zukunft des Flugplatzes
  • Kaiserschmarrn
  • „Das Jahr 2023 bleibt für die Ewigkeit“
  • Karstadt, Klima und die Kiez-Bebauung
  • Gräber, Goldmünzen und Glücksfälle
  • Die Schamanin von Bad Dürrenberg, das Intel-Gelände oder die Königspfalz in Helfta: An zahlreichen Orten in Sachsen-Anhalt waren 2023 Archäologen im Einsatz
  • Rätselhafter Rückblick






Freitag, 29. Dezember 2023

# 032 Bericht und Interview im Jahr 2032 mit der neuen Stadtplanerin


Dr.in-Dipl.-Ing.in Liane Müller-Utsch

-        Vorausblick auf die Achse der Zukunft bis 2042

-        Silicon-Börde – Allee der Kommerzbauten – Hasselbachplatz

-        Stadtplanung heute. Im Spannungsfeld von Wirtschaft, Kultur und Politik

Am Klinketeich Nr. 1 in 39116 Magdeburg-Ottersleben. Dort treffe ich die neue Stadtplanerin Liane Müller-Utsch in der obersten Etage des neuen 48-stöckigen Klinke-Hochhauses. Noch unter ihrem Vorgänger haben mutige Architekten durch die beiden obersten, 100 Meter über die Halberstädter Chaussee frei herauskragenden obersten Stockwerke, dem Gebäude die Silhouette einer stilisierten Türklinke gegeben. Freilich meinen böse Volksmundstimmen, das sähe eher wie ein Galgen aus. Die Schöpfer sahen unter dem Motto: „Die Klinke in die Hand geben!“, den Turmbau als Synonym für Begegnungen, Kommunikation und Transformation. Zugleich steht er als Leuchtpylon und Kristallisationspunkt für Magdeburgs Zukunft, hier, auf halbem Wege zwischen der traditionellen Innenstadt und der Silicon-Börde.

Es ist der Vorabend des Aschermittwochs und schon fast dunkel. Der Rundblick von hier oben ist fantastisch. Am noch etwas hellen westlichen Horizont zeichnet sich das Profil des Brockens ab. Mein Blick folgt den hier vom obersten Stockwerk fächerförmigen ausgehenden grünen Laserstrahlen, die wie Trageseile einer riesigen, ausladenden Hängebrücke südwestlich von den Chips-Fabs an der Autobahn in die nordöstlich liegende Innenstadt bis zum Hasselbachplatz reichen. Dahinter der angeleuchtete Dom, etwas rechts davon das Leuchtfeuer des Albin-Müller-Turms im Stadtpark und dazwischen der angestrahlte Pylon des Strombrückenzuges. Der Halbmond darüber komplettiert das Panorama, fast schon kitschig, wäre es nicht echt. Frau Müller-Utsch sitzt mir entspannt in einem der stilechten, freischwingenden Bauhaussessel, Marke „Thonet“, bei dämmrigen Licht gegenüber, durch die bodentiefen, umlaufenden Fensterbänder unser heutiges Thema immer vor Augen.

Hasselbachplatz-Blog: Frau Doktor Müller-Utsch, Sie sind nun seit Anfang 2032 verantwortliche Stadtplanerin für den Bereich des Hasselbachplatzes bis hinüber in die Silicon-Börde bei Ottersleben. Von hier aus haben Sie das ja alles im Blick. Was werden wir sehen, wenn wir in 10 Jahren, also 2042, von hier runterschauen? Was haben Sie sich vorgenommen?

Müller-Utsch: Heutzutage muss man „Stadtplanung“ neu denken, wurde sie vor 10 Jahren eher als „Satt-Planung“, also mit zwei „t“, gelebt (lacht). Gerade für Magdeburg ist nicht erst heute, da Intel bereits die vierte Fabrik auf die grüne Wiese gestellt hat, eine neue Zeit angebrochen. Die Eröffnung der neuen Werke von Infineon und Apple zeigen, wohin es geht. Wenn Sie dann noch die Ankündigung der chinesischen Investoren im Hinterkopf haben, das neue KI-Großlabor in Langenweddingen anzusiedeln, wissen Sie, warum damals die Eingemeindung von Sülzetal ein genialer Schachzug war. „Sülzetal goes silicon valley“, war nicht umsonst 2029 der entscheidende Wahlslogan im OB-Wahlkampf.

Was ist neu an Ihrer Stadtplanungsdenke?

Noch genauer darauf schauen, was Magdeburg braucht. Unsere Stadtgesellschaft wird noch internationaler werden, als sie jetzt schon ist. Da müssen wir uns Gedanken machen, was für typische und ausschließliche Magdeburger Merkmale wir haben, um uns von anderen deutschen, aber auch internationalen Standorten, abzuheben.

Also lieber klein-klein anstatt international business?




Wir müssen etwas fürs eigene Kleine tun und das, was andere auch groß macht, nicht lassen. Wir konzentrieren uns auf die Mega-Ansiedlungen der Chipfabriken in Ottersleben und schlagen einen Brückenkopf zum Hasselbachplatz.

Geht das auch genauer?

… ich war ja noch nicht fertig! Das heißt, von den HighTech-Tempeln in der Silicon-Börde aus, in Richtung Innenstadt, sollen entlang der 4-spurigen Wanzleber- und Halberstädter Chaussee sowie der innerstädtischen Halberstädter Straße rechts und links Fast-Food-Ketten und gehobene Systemgastronomie verschiedener Couleur angesiedelt werden, kombiniert mit One-Stop-Shopping-Malls und Mega-Outlet-Centern. Da fühlt sich das internationale Publikum schon mal heimisch und sicher.

Also doch so gesichtslos wie überall?

Bis hier. Aber es geht ja weiter zum Hasselbachplatz. Break. Cut. Plötzlich eine andere Welt: Alt, rustikal, Vintage, Kiez, Chaos, Clochards, kleine Läden, rumhängende junge Menschen, Bettler, das volle Programm. Der Gegenpol zur hypermodernen geordneten High-Tech- und Business-Welt: Die Gründerzeitfassaden, Alleinstellungsmerkmale schlechthin, und die Namen: Hasselbachplatz, Plättbolzen, Goldbroiler und so weiter sind Premium-Marken, die es an keinem anderen Ort der Welt gibt. Und wenn unser Publikum dann noch diese Begriffe im richtigen Machteburjer-Slang spricht, und das wird es zweifellos wollen, dann sind die Leute hier angekommen und wollen nie wieder weg.

Am Hassel soll alles so bleiben, wie es schon seit vielen Jahren war?

Bitte nicht nur „Hassel“ sagen, sondern das richtige Wording beachten: „Hasselbachplatz“ unbedingt komplett aussprechen, sonst verwechseln die Leute das noch mit dem englischen Wort „hustle“, also „Eile“. Die Leute sollen am Platz verweilen.

Sorry, … der Hasselbachplatz soll also bleiben, wie er ist?

Nein, der hat sich ja zum Leidwesen vieler Leute in den letzten 40, 50 Jahren immer wieder verändert. Dann die Mode, vielen der Geschäfte und Läden englischen Namen zu geben. Das kennt doch das internationale Publikum aus allen Ecken der Welt zur Genüge.

An der Angebotsstruktur müsste gefeilt werden, weg von den Spätis, Shisha Bars, Barbershops, Imbiss- und Dönerbuden.

 


Das hört sich nicht nach „Feilen“ an, eher nach „Absägen“.

Wir wurden seit 20 Jahren immer wieder von vielen gedrängt, endlich dort in die Strukturen einzugreifen. Aber wenn das nicht klappt, sollte es wenigstens unverwechselbar auf Deutsch bezeichnet werden.

Haben Sie da ein paar Vorschläge?

Ja gerne: „Wasserpfeifengaststätte“ statt Shisha-Bar zum Beispiel, oder für Spät-Shops passt „Spätverkaufsstellen“ besser.

 „Curry 54“ könnte „Gaststätte mit Hausnummer 54 für Fleischspeisen mit ausländischen Gewürzmischungen“ heißen. Ein Nightclub ist wieder ein „Nachttanzvergnügungslokal“ und „Under-Cover-City-Shoe-Shop“ wieder der „Schuhmachermeister mit angeschlossenem Schuhladen im Hinterhof“.

Und die Dönerbude?

„Blitz-Gastronom für südländisches Drehspießfleisch nach Rezepten aus der türkischen Provinz Bingöl“.

Klingt kompliziert.

Deutsch ist kompliziert. Nach all dem vereinfachenden, gleichmachenden Populismus der letzten beiden Jahrzehnte brauchen die Menschen Begriffe, über die sie nachdenken, an denen sie sich inhaltlich orientieren können.

Ich wusste gar nicht, dass Stadtplanerinnen auch noch den Job der Landeszentrale für politische Bildung machen.

Sie haben Recht, ich komme vom Thema ab, ich wollte nur den älteren Magdeburger Bürgern und Bürgerinnen helfen.

Vom Populismus wegzukommen?

Nein, weil Englisch für viele immer noch ein Problem ist.

Vielleicht sollte man die guten alten früheren Kneipennamen wieder einführen: Am „M2“ würde „Weinstudio Grün-Rot“ stehen, das „Drugstore“ wird wieder „Zum Alten Dessauer“, „Delicata“ zum „Goldbroiler“ und das „Flower-Power“ könnte „Impro“ heißen.

„Impro“ klingt aber nicht so richtig deutsch.

Aber ostdeutsch. Das war die legendäre DDR-Kultkneipe mit Blues- und Rockmusik in der Liebigstraße, hat mir mein Opa erzählt.

Aber Sie bringen mich auf eine Idee: Wir machen daraus einen NeOssi-Kiez. Extra für die Neu-Ossis, die hier jetzt wohnen und sich mit unserer Region identifizieren, aber eine andere Biografie als die Alteingesessenen haben. Auf der grünen Wiese am Magdeburger Prämonstratenserberg bauen sie gerade einer mittelalterlich anmutenden Altstadt als Neu-Nachbau aus der Beton-Retorte nach. Da ist unser NeOssi-Hassel-Kiez um Längen bzw. um 150 Jahre authentischer!

Hasselbachplatz!

Hasselbachplatz?

Ja, es muss „NeOssi-Hasselbachplatz-Kiez“ heißen! Ihre Rede.

Stimmt.

Frau Müller Utsch, wären Sie bereit, mir von Ihrem Gespräch mit der Verwaltungsspitze zu berichten? Ich richte mich ganz nach Ihrem Terminkalender. Jetzt aber danke für das – wie soll ich sagen? – visionäre Gespräch.