Spurensuche in
horizontaler Umgebung: Mit dem Zug am letzten Januartag 2023 von Magdeburg nach
Quedlinburg. Hier wurde schon 1843 Transformationsgeschichte geschrieben, als entscheidungs-
und risikofreudige Unternehmer, von Frauen ist in den Annalen nichts zu finden,
in eine der ersten Bahnstrecke in Deutschland investierten. Zwischen den
Bahnstationen Osterweddingen und Langenweddingen tangiert die Bahnstrecke
südlich fast das Intel-Gelände. Die Bewohner im Umland, gerade in dieser
Richtung, machen sich, wie man in der Zeitung lesen kann, große Hoffnungen auf
eine prosperierende Wirtschaft.
Dass
Transformation nicht nur rechts der eingleisigen Strecke, wo der Zug das
Magdeburger Stadtgebiet verlässt, eine Rolle spielen wird, sondern dass diese
seit 180 Jahren in verschiedener Weise ein auf und ab erlebt hat, davon legen
die durchfahrenen, meist über 1000 Jahre alten Orte Zeugnis ab, wie mir mein
Smartphone auf Anfrage verrät:
Osterweddingen:
Ein großes Industriegebiet mit Logistikzentren sowie moderner Flachglas- und
Pharmafertigung, heißt es da.
Langenweddingen:
Da war ich neulich mit dem Rad. Hier halten fahrplanmäßig nicht alle Züge. Am
Bahnübergang kam es im Juli 1967 zum schwersten Zugunglück der DDR.
Blumenberg: Hier hält kein Zug mehr, doch war der Ort zur DDR-Zeit ein wichtiger Umsteigebahnhof von und nach Staßfurt, Eilsleben und Schönebeck an der Elbe.
Hadmersleben:
Archäologen haben hier ein Hügelgrab, datiert auf 3000 vor Christus, entdeckt. Einmalig
in der Kunstgeschichte ist, dass eine Frau, Gertrud Gröninger, 1694 hier 17
Altarfiguren schnitzte. Johann Joachim Winckelmann, „Begründer“ des
Klassizismus und der modernen Archäologie, arbeitete im Ort als Hauslehrer,
bevor er Präfekt der Altertümer in Rom wurde. Bis zu den 20er-Jahren des
vorigen Jahrhunderts entstanden hier moderne Zucker- und Malzfabriken, eine
Brennerei und bis zum Ende DDR wurde das UNION-Bier in Hadmersleben gebraut. Gegen
Ende des 2. Weltkrieges gab es auch eine Flugzeugfabrik mit einem Außenlager
des KZ Buchenwald.
Oschersleben:
Der Eisenbahnbetrieb brachte hier schon früh viele Menschen zu Lohn und Brot. Auf
dem ehemaligen Gelände des Flugzeugwerkes ist heute ein großes Motorsportzentrum
und im Traditionsunternehmen BODETA werden heute noch innovative Süßigkeiten
mit und ohne Zucker hergestellt, neben 140.000 Tonnen gefrosteter Pommes frites
pro Jahr bei AGRARFROST.
Die Menschen
in der Börde kennen Transformation. Ich lege mein Smartphone wieder aus der
Hand.
In Nienhagen
bei Halberstadt ein kurzer Stopp. Hier wirkt alles, insbesondere das
Bahnhofsgebäude, trost- und mutlos. Selbst eine verrußte Dampflock der hier
manchmal vorbeikommenden Museumsbahn würde dagegen noch glänzen. Oder ist das hier
ein Kulminationspunkt der Hoffnungen im Dornröschenschlaf? Es ist jetzt eine
Nebenstrecke, nicht für schwere Güterzüge geeignet. Zu Schwerindustriezeiten ging
die „Kanonenbahn“ von Magdeburg entgegengesetzt in Richtung Berlin. Die Strecke
Magdeburg-Quedlinburg war vor allem eine Verkehrsader für hier hergestellte
Güter und für die viele Menschen auch auf dem Arbeitsweg zum SKET.
Weiter in
Richtung Quedlinburg. Immer wieder freie Flächen, die aber, verglichen mit dem riesigen
Areal für die neue Intel-Ansiedlung, klein wirken und nicht so eben sind. Vielleicht
Raum für zukünftige kleinere Firmen, Zulieferer oder günstige Schlafstätten?
Die
Landschaft zieht weiter vorbei, ich bin in Gedanken wieder auf dem Acker: Intel
statt Dinkel. Entstehen hier neuzeitliche Pfahlbauten, Fabriken neuer Technologie,
die bislang hier nicht angesiedelt waren, aber aus strategisch-wirtschaftlichen
Erwägungen genau hier aufgebaut werden sollen? Ähnlich der Motivation, die die Erbauer
von vorgeschichtlichen Pfahlbauten in seichten Gewässern hatten, weil es strategisch
günstig war?
Halberstadt:
Was werden die Archäologen im Jahr 2640, wenn das hier gerade laufende Orgelstück
ORGAN²/ASLSP von John Cage nach 639 Jahren Spielzeit beendet sein wird, noch
vorfinden? Werden sie lächeln über den festen Glauben der damaligen Menschen,
mit Technologie, mit Mikroelektronik und KI alles zum Guten wenden zu können?
Werden sie den Kopf schütteln über die vermeintliche Primitivität der zwei Nano-Chip-Technologie,
auf die wir jetzt so stolz sind? Vielleicht werden sie in dem mit Gras überwucherten
Intel-Acker, wo sich wieder eine Humusschicht gebildet hat, andere, tiefere
Einschnitte von den Beton-Gründungspfählen des Fundamentes der ehemaligen
Chip-Fabrik in dem hellen Untergrundsand entdecken und über deren Bedeutung rätseln,
weil es keine schriftlichen Dokumente aus dieser Zeit gibt?
Vor
Quedlinburg kurzer Stopp in Ditfurt, wo das Parallelgleis schon mit abgestorbenem
Gras, Gestrüpp und kleinen Bäumchen eine Symbiose eingegangen ist. Die Schienen
werden verrosten, darüber wird sich auch eine Humusschicht bis 2640 bilden. Archäologen
werden dann beweisen, dass es hier ein Parallelgleis gegeben haben muss.
Sie werden vielleicht über zwei mögliche Typen der damaligen Gesellschaft spekulieren, die Zweifler und die Fatalisten, oder in Zusammenarbeit mit Psychologen, einen gewandelten Archetyp, den „Transformisten“ definieren, werden Thesen aufstellen, wie die damals „getickt“ haben könnten. Also, wie wir heute denken. Transformisten gibt es ja wirklich: https://detransformisten.be/ und werden gesucht.
Ich suche nach alten Zeiten.