Steht man vor einer wichtigen Entscheidung, wie zum Beispiel einer
Operation oder anderen medizinischen Maßnahme, soll man eine zweite Meinung,
neudeutsch „second opinion“, von kompetenter Seite einholen.
So geht es mir beim Thema „Wasser“,
oder, genauer gesagt, mit der „Wasserbilanz“ im Hinblick auf den Klimawandel und
im Kontext der Intel-Ansiedlung. Neben dem Gespräch mit Jörg Claus war meine
Hauptquelle eine Broschüre aus den Jahre 2021: Klimamodellauswertung
Sachsen-Anhalt 1961 – 2100“, herausgegeben vom LAU, dem Landesamt für
Umweltschutz des Landes Sachsen-Anhalt in Halle.
Die zweite Meinung hole ich am vorletzten
Märztag ein, im letzten Wagen des IC 2446 von Halle nach Magdeburg. Ich sitze
darin, von Chemnitz kommend, und warte beim Halt in Halle auf meinen
Gesprächspartner: Dr. Karsten Rinke vom Helmholtz Zentrum für Umweltforschung,
kurz UFZ genannt. Wir hatten vor einigen Tagen beim Telefonieren festgestellt,
dass wir auf dem Rückweg von Veranstaltungen heute zufällig im gleichen Zug
sitzen würden. Ja, solche Zufälle gibt es wirklich. Er wird gleich aus dem ICE von
Erfurt umsteigen. Da wir uns noch nicht persönlich begegnet sind, haben wir diesen
Wagen als Treffpunkt – und wie für ein konspiratives Rendezvous – Erkennungszeichen
vereinbart. Er: leuchtend hellblaue Jacke. Ich: breitkrempiger schwarzer Hut.
Ich komme
aus Chemnitz, von einem von mir
initiierten Treffen von Vertretern und Vertreterinnen der freien Kulturszenen
der ehemaligen Bewerberstädte für die europäische Kulturhauptstadt 2025.
Ja genau, da war doch etwas, das Magdeburg
bis vor zwei Jahren auch sehr stark bewegt, viel Aufwand und Energie gekostet
hat. Ein großes Anlaufen im Versuch, als Stadt wieder in europäische
Dimensionen vorzudringen und weithin wahrgenommen zu werden. Auch damals gab es
Für und Wider, Zweifler, Optimistinnen, Hoffnungsträger und Miesmacherinnen.
Damals – es fühlt sich an, als wäre das schon 10 Jahre her – bekamen die Desillusionisten
ihre Bestätigung. Wir hätten, trotz Euphorie nach dem Erreichen der Endrunde, nie
eine Chance gehabt. Danach erlebten die schnell geschmiedeten „B“-Pläne, die
bis 2030 reichten, eine nachhaltige Bruchlandung.
Alle Pläne? Nein! Da gibt es,
versteckt in den noch freien kulturellen Nischen der damaligen Bewerberstädte, den
Plan „C“ der unerschrockenen und resilienten Aufrechten, die sich an den Schwur
der freien Szenen von 2018 erinnern: Egal, welche Stadt den Zuschlag erhält, die
freien Kulturszenen der unterlegenen Städte und Regionen, sollen, unterstützt
von der lokalen freie Szene der dann ernannten Kulturhautstadt Europas, die
Möglichkeit bekommen, sich gemeinsam, also jetzt, bei „Chemnitz 2025“, einzubringen.
Dafür wurde nun am Vortag der Anfang in Chemnitz mit den ersten Projektideen vollzogen.
Exkurse
Mein IC wartet immer noch auf den
etwas verspäteten ICE aus Erfurt. Im Zugabteil arbeitet sich am benachbarten Viererplatz
mit Tisch eine junge Frau in einem exotisch, aber modern wirkenden Hosenanzug,
vielleicht eine Studentin, an einem Schriftstück ab. Plötzlich kommt sie zu mir
und fragt in gebrochenem Deutsch, ob ich ihr helfen könne. Sie würde gerade
einen Deutschkurs, Stufe C2 machen. Sie müsse Textlücken mit den richtigen
Pronomen füllen, die sie einer Liste entnehmen soll. Sie weist auf eine Lücke,
ich zögere, weil ich erst aus dem Kontext ableiten muss, ob Plural oder
Singular gemeint ist, entschuldige mich, dass ich nicht so sicher in der Grammatik
bin, obwohl ich Texte schreibe, dafür aber von einem versierten Lektor unterstützt
werde. Ich weiß nicht, ob sie das versteht. Sie schaut mich verwundert an, als
ich schnell meinen Hut aufsetze, denn der Erfurter ICE ist angekommen. Viele
Passagiere queren eilig den Bahnsteig in unseren Zug. Ich halte Ausschau nach
einer leuchtend hellblauen Jacke. Karsten Rinke und ich finden und begrüßen
uns, während der Zug anrollt und eine längere Lautsprecherdurchsage die
Kommunikation erschwert. Gleichzeitig bittet die Studentin, höflich, aber
bestimmt, um weitere Hilfe, jetzt von uns beiden. Unser Tipp „ihren“
einzusetzen, funktioniert nicht, weil sie diese Pronomina schon „verbraucht“
hat. Also muss ein Fehler vorliegen. Sie radiert alles aus, um mit uns den
ganzen Text durchzugehen.
Karsten Rinke versteht es, mit
der Frau ins Gespräch zu kommen. So erfahren wir, dass sie aus Venezuela kommt und
in einigen Tagen die Prüfung ansteht. Er macht ihr freundlich klar, dass wir
eine Besprechung geplant haben, die wir bis Magdeburg zu Ende bringen müssen
und dass wir sie leider nicht weiter unterstützen können.
Karsten Rinke ist ein
sportlicher, drahtiger Typ, er wirkt offen und sympathisch, vielleicht um die
50, eher jungenhaft als väterlich. So überzeugt er unsere ratsuchende
Mitreisende, die zuerst etwas hilflos lächelt, sich aber dann mit ihrem Heft
auf ihren Platz zurückzieht und sich wieder über das Aufgabenheft beugt.
Ich entledige mich meines Hutes
und Karsten Rinke seiner Jacke. Er berichtet, dass er von einem Kongress zum
Thema „Seen“ kommt. Das wäre sein Spezialgebiet, nicht das Grundwasser, aber er
will mir trotzdem gern bei dem Thema helfen. Ich schildere ihm, was ich in
Sachen Landwirtschaft und Wasser erfahren und sonst noch recherchiert habe. Er
hört sich alles an. Als ich kurz innehalte, fragt er, ob ich fertig sei. Ich
bin etwas verdutzt. Er klärt mich freundlich auf, dass ich ruhig
weitersprechen, aber mich nicht wundern solle, dass er nur zuhöre und so erfahre,
auf welchem Stand ich bin und welche Fragen für ihn daraus folgen.
Fakten, Fakten, Fakten
In der Zugdurchsage wird schon Köthen
angekündigt, so beende ich erstmal meinen Vortrag. Was sagt er dazu? Er reiht
Vergleichszahlen und zeigt Zusammenhänge in schneller Folge, relativiert die
eine oder andere meiner Einschätzung, weiß auf viele meiner Fragen Antworten,
bei einigen, die nicht in das Tagesgeschäft seiner Expertise gehören, lässt er
Fragezeichen stehen. Ich kann gar nicht so schnell mitschreiben. War das vorhin
Liter pro Tag oder pro Kubikmeter je Monat? Waren 500 Millimeter Jahresniederschlag
früher oder jetzt?
Ich resümiere: Der genaue Intel-Wasserbedarf
ist ihm nicht bekannt, aber ausgehend von der Größe, die für den
Wasserverbrauch der wohl vergleichbaren Intel Chip-Fabs in Irland genannt wird,
also ca. 600.000 m³ je Monat in der ersten Ausbauphase, wäre das eine
beherrschbare Größenordnung. Das bestätigte schon sein Institutskollege
im letzten Sommer gegenüber dem MDR. Die Kapazitäten im Wasserwerk Colbitz
wären allerdings dafür nicht ausreichend, so dass man perspektivisch ein
Wasserwerk an der Elbe bauen sollte, mit Wasserentnahme aus dem Uferfiltrat.
Die Entnahme, selbst bei extremem Niedrigwasser, wäre weniger als ein Prozent
vom Elbdurchfluss, also unproblematisch.
Das Problem für der
Elbe besteht nicht in der zusätzlichen Wasserentnahme durch Intel in Magdeburg
- das Problem ist vielmehr, dass die Elbe von vorn herein einen viel zu
geringen Pegel hat, der Menschen-gemacht ist. Dieser Menschen-gemachte
Wassermangel verstärkt die Probleme, die der Klimawandel uns bringt und daher
müssen wir unser Wassermanagement anpassen. Zu verhindern gilt es, dass Wasser
schnell aus der Landschaft abfließt (z.B. durch hohe Flächenversiegelung,
Entwässerungssysteme, Drainagen, ... auch auf dem Intel-Gelände), sondern eher
in den Grundwasserspeicher der Landschaft infiltriert. Aus diesem Speicher
rekrutiert sich ja der Niedrigwasserabfluss der Elbe. Ein weiterer Punkt ist
der Flussverbau. Durch die Buhnenfelder und die Aufrechterhaltung
der Schiffbarkeit hat sich die Elbe mancherorts über zwei Meter in die
Landschaft eingetieft und lässt dadurch die Auen vertrocknen
und entzieht der Landschaft noch tiefere Grundwasserschichten.
Grundwasserentnahmen an anderen
Stellen in der Region käme nicht in Frage, da seit 2010 der Grundwasserspiegel zusätzlich
durch die aufeinander folgenden trockenen Jahre insgesamt um ca. einen Meter
abgesunken ist. Dass solche trockenen Jahre so gehäuft und mit diesem Effekt
auftreten, hätten er und seine Wissenschaftskollegen und -kolleginnen sich noch
vor ein paar Jahren nicht träumen lassen.
Karsten Rinke wird konkret: Durch
weitere Maßnahmen, wie geschlossene Wasserkreisläufe mit Reinigung und
Wiederverwendung und Gebrauch von Wasser mit unterschiedlichen Qualitäten für
verschiedene Nutzungen, könnten die Wasserressourcen insgesamt effektiver
genutzt werden. Die Investitionen in Wasser- und Abwasserwerke mit den
Leitungen seien natürlich erheblich, aber würden die Wasserkosten trotzdem in
wirtschaftlichen Grenzen halten. Die Resilienz der Wasserversorgung für
Magdeburg wäre, mit einem zusätzlichen Wasserwerk an der Elbe, in schwierigen
Situationen, wenn es z.B. in Colbitz mal knapp werden würde, größer.
Nach diesem stürmischen Wellenritt
durch die Wasserwelt der Börde rauschen wir schon durch Schönebeck und haben sogar
noch Zeit, uns über unsere Herkunft und Lebensumstände zu unterhalten, auch
darüber, und wie wir beide als Magdeburger Neubürger mit der Mentalität der Magdeburger
klarkommen.
IC – ICE – ICCE
Eine endliche Fahrzeit für
Besprechungen wirkt effektiv. Bis zum Zielbahnhof muss man fertig sein:
Vielleicht könnte man daraus ein
Geschäftsmodell machen. Sonderwagen mit unterschiedlich großen
Besprechungsabteilen einsetzen, eine KI-Anwendung analysiert durch Data-Mining Gesprächs-
und Kontaktbedarfe innerhalb von Konzernen und zwischen Unternehmen, kombiniert
diese mit ohnehin anstehenden Dienstreisen und bringt so die Gesprächspartner
und Gesprächspartnerinnen auf ICE-Strecken zu Konferenzen zusammen. Ein ICE
würde so zum ICCE – einem Intercity Conference Express. Der würde dann auch in
Magdeburg halten, weil die Intel-Ansiedlung über Jahre nicht nur konzernintern
viele Gesprächsrunden erfordert. Was ist bei Verspätungen? Die geben Raum für
gruppendynamische und teambildende Additional-Events. Zeit für Protokolle
braucht man nicht. Die Tonaufzeichnungen werden von der KI automatisch transkribiert
und schnell in kompakte, schnörkellos formulierte Dokumente verwandelt. Noch
bevor die Konferierenden aussteigen, haben sie automatisch das Protokoll im Postfach,
die verteilten Aufgaben und Termine in ihren ToDo-Listen und das nächste
Treffen in den Terminkalendern.
Karsten Rinke und ich sind beim
„Du“ und auf dem Magdeburger Bahnhofsvorplatz angelangt. Wir verabschieden uns.
Er fährt mit dem Fahrrad weiter, Richtung Ostelbien, jenseits des Umflut-Kanals.
Ich absolviere meinen Abendgang nach Hause und
tangiere dabei den Hasselkreisel. „Intel sitzt und putzt jetzt am Hassel“,
stand gestern groß in der „Volksstimme“, „mit 30 Mitarbeitern und
Mitarbeiterinnen im spitz zulaufenden ‚Plättbolzen‘ “. Hier wird die Intel-Mitarbeiterin
ihren Arbeitsplatz haben, die ich neulich in München vermutet habe. Der „Plättbolzen“
ist so etwas wie der kleine, aber drei Jahre ältere Bruder des ikonografischen Flatiron
Building in New York. Ich werde für meine Führung „Check den Hassel“ nun meine
Ode an den Hassel ergänzen müssen.
Vorbehalte dahingeschmolzen
Intel-Office startet im „Plättbolzen“
Sieht aus wie das Flatiron Building
Little New York mit Hassel-Feeling
… oder so ähnlich.