Hatte
er die Balkontür geschlossen? Hermann war schon unterwegs auf der Autobahn,
kurz hinter Magdeburg. Hatte er sie auf „Kipp“ stehen lassen? Wahrscheinlich
war, wie er es in der letzten Zeit öfter erlebt hatte. Alles in Ordnung bei der
Rückkehr. So wird es auch diesmal sein, beruhigte er sich. Außerdem waren Sturm
oder Gewitter nicht angedroht. So fuhr er weiter.
Hatte er aus
Altersgründen seine berufliche Leidenschaft vor vier Jahren aufgeben müssen – den
Titel „Rentner“ mochte er nicht – so brauchte auch er Urlaub. Dabei mischte er
sich gern unter die Leute, in Fußgängerzonen, Museen und Restaurants seines
immergleichen Urlaubsortes. Altersgewohnheitsmensch. Aber so vergaß er den
anderen Trott: Er dachte sich Geschichten aus im Dahintreiben.
Daraus
machte er Stories - die nicht zu sehr ausschmückt werden durften, damit sie authentisch
wirkten – und wurde damit zum Mittelpunkt seiner wöchentlichen E-triple-I Runde.
Man hätte auch Stammtisch sagen können, aber das hasste er für eine Runde ehemaliger
Ingenieure, meist aus den Schwermaschinenbaubetrieben seiner Stadt. Dann doch lieber
die neudeutsche Abkürzung, die sich immerhin anhörte wie ein internationales
Normungsgremium: Obwohl mit dem E und den drei I „Einmal Ingenieur
– Immer Ingenieur“ gemeint war.
Bei
der Rückkehr in seine kleine Wohnung kam ihm die Küche dämmrig vor, schien doch
die Sonne. Sein Kipp-Gedanke kam zurück. Aber nichts war passiert, nur, dass ein
Zweig des Baumes, der vor seinem Balkon stand, sich durch die Kippöffnung
geschoben hatte und einen angenehmen Duft verströmte. Einige Zweige drückten mit
ihrem Blattwerk von außen gegen die Scheibe, als ob der Baum sich die Nase an
der Scheibe plattdrückte. Er lächelte.
Erst einmal
musste er ankommen, auspacken, einkaufen. Mit der herzblättrigen Erle, die ihn
nun besuchte, hatte er sich in den letzten Jahren angefreundet, als er sie in den
immer trockener werdenden Sommern gegossen hatte. In seiner Männerrunde machten
sie sich lustig über ihn, wenn er von seiner Alnus cordata schwärmte, nicht nur,
weil sie für ihn Lärm schluckte und ihm Luft zum Atmen gab, sondern auch den
Balkon an heißen Sommertagen zum schattigen Platz machte, wenn Hermann es in
der Dachwohnung nicht aushielt.
Diskutierten
sie früher in der E-triple-I-Community leidenschaftlich über die neuesten Konstruktionen
der Abraumbagger und warum ihre Nachfolger in den Konstruktionsabteilungen die
Kugellager mit der Nano-Oberflächenveredelung einsetzten, so drehte sich neuerdings
alles um die große Ansiedlung von Intel mit der „Giga-Chip-Fab“. Da konnte er nicht
mitreden. Anders als die TU-Diplomingenieure - einige hatten sogar promoviert –
hatte er nach der Polytechnischen Oberschule und Dreherlehre noch die klassische
Ingenieurfachschule besucht. Im Schwermaschinenbaukombinat und auch später in
der Folge-GmbH war er gefragt, hatte anspruchsvolle Maschinenteile konstruiert,
die in die halbe Welt gingen. Zu Kombinatszeiten war er immer wieder im
sozialistischen Ausland gewesen. Nach der Wende überließ er wegen seiner
Englisch-Schwäche den jüngeren Kollegen die Projektleitungen auf den
ausländischen, meist westlichen Baustellen. Russisch war dort nicht gefragt,
und er trank weiter lieber Wodka als Whiskey. Als Oberingenieur konnte er sich trotzdem
bis zuletzt Respekt verschaffen.
Warum
war ihm bisher nicht aufgefallen, dass sein Baum wuchtiger als die anderen
Straßenbäume des Viertels war? Als er sich nach ein paar Tagen daran machte,
die in seine Küche wachsenden Zweige zurückzubiegen – abschneiden kam für ihn
nicht in Frage - stellte er fest, dass das nicht mehr möglich war. Der Ast war schon
armdick geworden und weitere Verästelungen fingerten schon an seinem Schrank
mit den Gläsern. Zwei Tage später war sein Herd nicht mehr erreichbar, so entdeckte
er viele Restaurants und Imbissbuden in seinem Kiez.
Indes entwickelte
sich eine gruppendynamische Euphorie. Als die ersten beiden Chip-Fabs eröffnet
wurden - immerhin die größte Einzelinvestition, die jemals in Deutschland
getätigt worden war, und das von einer der weltweit größten Hightech-Companien aus
Silicon Valley - wurde „The sky is the limit“ das Gruppenmotto. Alle waren zur
Eröffnung eingeladen, seine alternden Ingenieurskollegen sahen sich als Messdiener
in der neuen Kathedrale der Technik und hatten auch gleich einen Spruch parat: „Wenn
euer Glaube auch nur so groß ist wie ein Senfkorn, dann werdet ihr zu diesem
Berg sagen: ‚Rück von hier nach dort!‘ und er wird wegrücken. Nichts wird euch
unmöglich sein.“
Mit der
Bibel hatte er seine Kollegen in den letzten 40 Jahren noch nie argumentieren hören.
Er wollte einfach nicht glauben, dass die christliche Ambition des CEOs des neuen
Großinvestors schon auf seine Kollegen gewirkt hatte. Als mehrheitlich
beschlossen wurde, einen Workshop für Halbleiter-Englisch einzurichten, fühlte
sich Hermann endgültig ausgebootet.
Er
stellte fest, dass die anderen Erlen in der Straße kränklich wirkten: die
Blätter zu blass und die Rinden aschfahl. Seine Alnus cordata dagegen überragte,
vor sattem Grün strotzend, bereits das Haus. Der starke Ast, der in seiner
Balkontür verschwand, wirkte, von außen gesehen, wie eine intime Umarmung, als ob
sich eine Hand in den Rückenausschnitt einer Frau schiebe.
Sein Budget
für außerhäusliche Mahlzeiten war erschöpft. Die Zweige hatten sich in der
Wohnung ziemlich breitgemacht. Da griff er endlich zur Säge. Aber die Baumrinde
war wie ein Panzer, den er nur ankratzen konnte. Ockerfarbenes Harz quoll aus
den Sägewunden. Es roch seltsam. Woran erinnerte es ihn? Er kam nicht darauf.
In der Gruppe wurde beschlossen, die bisherige ehrenamtliche Unterstützung für das Technikmuseum einzustellen. Als Argument wurde angeführt, dass die Stadt auch die Ausbaupläne für das Museum, die für die Kulturhauptstadtbewerbung aufgelegt worden waren, stark beschnitten hätte. Man müsse das Schwermaschinenbauthema endlich abschließen, den Historikern, besser noch den Industrie-Archäologen, überlassen. Es gelte, den Blick nach vorn zu richten. Hermanns Einwand, dass der Maschinenbau die Mutter aller Technologien sei und anspruchsvoller Schwermaschinenbau auch in der Zukunft zum Beispiel etwa für die Gewinnung seltener Erden für die Chipindustrie dringend notwendig wäre, zählte nicht. Der letzte Anstoß für seine Kündigung war, dass die Gruppe von Ingenieuren aus der Halbleiterbranche beinahe unterwandert wurde. Er hatte seine Heimat verloren.
Seitdem
er seine herzblättrige Freundin durch die Wohnungstür, weiter durchs
Treppenhaus und von dort wieder aus dem Fenster hinauswachsen ließ, kamen kaum
neue Seitentriebe in seiner Wohnung dazu. Die starken Zweige ließen sich auch hier
und da zur Seite drücken, so dass er seine Wohnung wieder besser nutzen konnte.
Er sah sich einige junge Triebe näher an, die seinen Kräuter- und Gewürzschrank
umspielten. Da kam ihm wieder der Harzgeruch in die Nase. Jetzt fiel es ihm
wieder ein: Das war der Geruch seines Kräutersuds. Den hatte er damals auf
Empfehlung einer Naturheilerin in kleinsten Dosen dem Gießwasser für seine Erle
zugesetzt.
Darauf zog
er die Spezialistin wieder hinzu, die sich seinen Baum genau ansah, befühlte, an
Hermann und einigen zerriebenen Blättern roch. Sie bat ihn, einen Tee mit der Kräutermischung
von damals aufzubrühen, den sie gemeinsam und meditativ tranken, Schluck für Schluck.
Mit ihrem Kater Franz auf dem Schoß, den sie immer dabeihatte und fortwährend streichelte,
kam sie ihm wie eine geheimnisvolle Druidin vor. Sie klärte ihn auf, dass der dem
Gießwasser zugesetzte Kräutersud, auch wenn es nur Nanogramm des Wirkstoffes je
Liter gewesen seien, das extreme, expansive Wachstum feinster Wurzeln bewirkt
hätten. Damit wäre das Grundwasser den anderen Bäumen entzogen worden. Die
gleiche Methode gehöre übrigens als „Dotierung“ auch zum Hexeneinmaleins der
Halbleitertechnologie.