Aber was heißt stumme Zeugen? Laut tickt die hölzerne Wanduhr aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts und die französische Standuhr aus Marmor und poliertem Messing – oder ist es Gold? –stammt aus der Belle Époque, da ist sich Kalle sicher, als sie vornehm wie seit 150 Jahren, auf die Minute genau die gerade abgelaufene Viertelstunde meldet.
Den anderen stummen Zeugen in
seinem Zeitkabinett drückt Kalle, als Herr der Hinterlassenschaften von
Generationen, den verbalen, zeittaxierenden Stempel auf. Als Wandler zwischen
den Zeiten weiß er viel zu den einzelnen Gegenständen zu erzählen. Er importiert
seine Gegenstände mit den ihnen anhängenden Zeiten aus aufgegebenen Wohnungen aus
der Umgebung, wie die zwei großen Kerzenleuchter aus Quedlinburg. Bei einer
Magdeburger Wohnungsauflösung hat er eine fein bestickte weiße Tischdecke und auf
einem Flohmarkt das dazu passende Silberbesteck ergattert, alles schön drapiert
auf dem dunkelpolierten Holztisch aus der gutbürgerlichen Zeit vor 180 Jahren.
Manchmal setzt sich Kalle an den Tisch, schenkt sich schweren Rotwein in das
dazu passende Bleikristallglas und taucht sinnierend mit jedem Schluck tiefer
in diese alte Magdeburger Zeit, in sein Tempo ein. Er ist als Temponaut
unterwegs auf seinem kleinen Planeten der versunkenen Momente, die er für seine
Kunden wie Atlantis wieder auftauchen lassen kann.
Seine Besucher wollen nicht mit
der Vergangenheit abschließen, sondern suchen einen Anker in der Vergangenheit,
mit dem sie gute Erinnerungen verbinden. Wie eine Nabelschnur, so philosophiert
unser Temponaut. Einer der Suchenden kam neulich in seine Vergangenheitswelt,
kaufte eine alte lederne Hebammentasche mit großer Klappöffnung und
Metallverschluss, ähnlich einer dieser typischen Doktortaschen. Kurz danach kam
er mit seiner Freundin wieder, wollte die gleiche Tasche noch einmal kaufen,
weil er damit Erinnerungen an eine englische 70er-Jahre-Tierarztserie im
Fernsehen verband und mit der Tasche diese konservierte Zeit auch an seine
Freundin weitergeben wollte. Die beiden nahmen sich noch im Laden vor, dass
sie, jedes Mal, wenn er oder sie diesen speziellen Verschluss betätigen, sie sich
kurz Zeit nehmen und an den anderen denken. Aber alte Zeiten-Trageinrichtungen
sind scheue Einzelgänger und nicht immer auf Lager. Kalle kann in solchen
Fällen helfen. Er recherchiert, fragt bei seinen Temponauten-Kollegen in
anderen Zeitschleusen nach, um auf diesem Wege eine ähnliche Tasche aufzutreiben,
quasi als Geburtshelfer für Erinnerungen an alte Zeiten.
In einem großen alten Wandspiegel
sehe ich plötzlich Kalle, stilecht und schnittig-preußisch als Hauptmann der
Magdeburger Festungsanlage Ravelin ausstaffiert. Aber Kalle kommt gerade aus
dem Verkaufsraum auf mich zu, im Spiegel sehe ich nur noch den Kleiderständer,
an dem alte Militärklamotten hängen.
Eine Spezialität in dieser
Tempoinsel sind Zeitzinsen. Da gibt es diesen Büfett-Schrank, mit dem Kalle fast
schon verheiratet ist, wie er sagt, weil er schon seit über 20 Jahren im Laden
brav an seiner Seite aushält. War der Schrank anfangs 80 Jahre alt, so hat er
nun runde 100 auf dem Buckel. Ein Plus von 25%! In dieser Umgebung kommt sich
Kalle mit seinen 75 Lenzen noch jung und rüstig vor. So wirkt er auch.
Sind alte Wohnungen von
verstorbenen Magdeburgern Treibstoff für seine Zeitmaschine? „Manchmal komme
ich in Wohnungen und sehe sofort: Nur Wohlstandsmüll. Die haben alle paar Jahre
jede neue Einrichtungsmode mitgemacht, da gehe ich gleich wieder.“ Also nichts
für Kalle, seine Zeitwährung zählt erst ab 40 … 50 Jahre.
Mein Versuch des Blickes nach vorn: Was erwartet
Kalle für Veränderungen von der Intel-Ansiedlung? „Die seh ich noch nicht,
glaub erst dran, wenn es tatsächlich losgeht, mit der Baustelle“, und weist
dabei auf die auf seinem antiken Schreibtisch ausgebreitete „Volksstimme“, die
er als Vormittagsritual immer ganz ausführlich liest. Er kann die Amis schlecht
einschätzen, mit den Russen hätte er viel Wodka getrunken. Ob ihm nicht die
hier zukünftig arbeitenden Amerikaner gerade wegen seinen antiken Raritäten die
Bude einrennen werden? Kalle lächelt mich an und sagt dann ganz entspannt: „Nee,
lass mal, die Geschäfte machen dann ganz andere.“
Ich habe gar nicht gemerkt, wie viel Zeit ich
schon in diesem Laden gelassen habe. Es war schön, sich darin zu verlieren und
den Temponauten Kalle kennenzulernen. Draußen ist die Zeit nicht stehen
geblieben, geschäftiges Treiben gegenüber am Biomarkt, ich muss schnell zum
Bus, rüber in die Arndstraße. Da kommt schon der 52 um die Ecke, plötzlich geht
es um Sekunden …