Mittwoch, 27. Dezember 2023

# 004 Temponaut in einer Magdeburger Zeitschleuse - Januar 2023

„Wenn du das 30 Jahre machst, dann hast du keine Lieblingsgegenstände mehr, das ist wahr, obwohl, man findet zwar noch was schön, wie dieser Sekretär da, Biedermeier, hat seine 200 Jahre auf dem Buckel, Originalzustand,“

… sagt Kalle nach meinem Eintritt durch die blaue Ladentür in sein verwunschenes „Antik- & Raritäten-Land“ im Magdeburger Stadtfeld. Ich trete durch diese Zeitschleuse, und es tut sich ein Raum auf, der zurück in die Vergangenheit führt. Kommt man mit handelsüblichen Zeitmaschinen zwar in die Zukunft und Vergangenheit, so bleibt man doch je Zeitreise einer bestimmten Zeit verhaftet. Hier ist es anders. Man schwebt gleichzeitig durch die vielen stummen Zeugen der letzten 200 Jahre. Hier der 60er-Jahre-Reisekoffer aus „Vulkanfiber“, da auf dem Tisch Urgroßmutters komplettes 6er-Kaffee-Service aus hochwertigem Porzellan, das sich damals nur die Familien der Gusseisen-Barone und ihre leitenden Angestellten und Ingenieure leisten konnten. Hat aus dem klobig wirkenden und mit einer Krone verzierten Bierhumpen vielleicht schon Kaiser Wilhelm genippt?


Aber was heißt stumme Zeugen? Laut tickt die hölzerne Wanduhr aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts und die französische Standuhr aus Marmor und poliertem Messing oder ist es Gold? stammt aus der Belle Époque, da ist sich Kalle sicher, als sie vornehm wie seit 150 Jahren, auf die Minute genau die gerade abgelaufene Viertelstunde meldet.

Den anderen stummen Zeugen in seinem Zeitkabinett drückt Kalle, als Herr der Hinterlassenschaften von Generationen, den verbalen, zeittaxierenden Stempel auf. Als Wandler zwischen den Zeiten weiß er viel zu den einzelnen Gegenständen zu erzählen. Er importiert seine Gegenstände mit den ihnen anhängenden Zeiten aus aufgegebenen Wohnungen aus der Umgebung, wie die zwei großen Kerzenleuchter aus Quedlinburg. Bei einer Magdeburger Wohnungsauflösung hat er eine fein bestickte weiße Tischdecke und auf einem Flohmarkt das dazu passende Silberbesteck ergattert, alles schön drapiert auf dem dunkelpolierten Holztisch aus der gutbürgerlichen Zeit vor 180 Jahren. Manchmal setzt sich Kalle an den Tisch, schenkt sich schweren Rotwein in das dazu passende Bleikristallglas und taucht sinnierend mit jedem Schluck tiefer in diese alte Magdeburger Zeit, in sein Tempo ein. Er ist als Temponaut unterwegs auf seinem kleinen Planeten der versunkenen Momente, die er für seine Kunden wie Atlantis wieder auftauchen lassen kann.

Seine Besucher wollen nicht mit der Vergangenheit abschließen, sondern suchen einen Anker in der Vergangenheit, mit dem sie gute Erinnerungen verbinden. Wie eine Nabelschnur, so philosophiert unser Temponaut. Einer der Suchenden kam neulich in seine Vergangenheitswelt, kaufte eine alte lederne Hebammentasche mit großer Klappöffnung und Metallverschluss, ähnlich einer dieser typischen Doktortaschen. Kurz danach kam er mit seiner Freundin wieder, wollte die gleiche Tasche noch einmal kaufen, weil er damit Erinnerungen an eine englische 70er-Jahre-Tierarztserie im Fernsehen verband und mit der Tasche diese konservierte Zeit auch an seine Freundin weitergeben wollte. Die beiden nahmen sich noch im Laden vor, dass sie, jedes Mal, wenn er oder sie diesen speziellen Verschluss betätigen, sie sich kurz Zeit nehmen und an den anderen denken. Aber alte Zeiten-Trageinrichtungen sind scheue Einzelgänger und nicht immer auf Lager. Kalle kann in solchen Fällen helfen. Er recherchiert, fragt bei seinen Temponauten-Kollegen in anderen Zeitschleusen nach, um auf diesem Wege eine ähnliche Tasche aufzutreiben, quasi als Geburtshelfer für Erinnerungen an alte Zeiten.

Ich schweife durch einen Nebenraum. Dort sind viele Militaria, wie Uniformen, Säbel, Feldbesteck versammelt. Die Originalteile, an denen noch alte Zeiten kleben, werden von denen gesucht, für die die Zeit stehengeblieben ist.

In einem großen alten Wandspiegel sehe ich plötzlich Kalle, stilecht und schnittig-preußisch als Hauptmann der Magdeburger Festungsanlage Ravelin ausstaffiert. Aber Kalle kommt gerade aus dem Verkaufsraum auf mich zu, im Spiegel sehe ich nur noch den Kleiderständer, an dem alte Militärklamotten hängen.

Eine Spezialität in dieser Tempoinsel sind Zeitzinsen. Da gibt es diesen Büfett-Schrank, mit dem Kalle fast schon verheiratet ist, wie er sagt, weil er schon seit über 20 Jahren im Laden brav an seiner Seite aushält. War der Schrank anfangs 80 Jahre alt, so hat er nun runde 100 auf dem Buckel. Ein Plus von 25%! In dieser Umgebung kommt sich Kalle mit seinen 75 Lenzen noch jung und rüstig vor. So wirkt er auch.

Sind alte Wohnungen von verstorbenen Magdeburgern Treibstoff für seine Zeitmaschine? „Manchmal komme ich in Wohnungen und sehe sofort: Nur Wohlstandsmüll. Die haben alle paar Jahre jede neue Einrichtungsmode mitgemacht, da gehe ich gleich wieder.“ Also nichts für Kalle, seine Zeitwährung zählt erst ab 40 … 50 Jahre.

Neulich hat jemand den alten Reisekoffer aus Vulkanfiber gekauft, hergestellt in den 50er/60er-Jahren vom VEB Kofferfabrik Kindelbrück in Thüringen. Der Käufer war glücklich, prominierte stolz samt Hut und Stock durch die Gegend und freute sich über jeden, der ihn deswegen ansprach. Er öffnete dann immer kurz den Reisekoffer, um etwas Zeit entweichen zu lassen und plötzlich hatten andere Menschen Zeit für ihn, die vorher achtlos an ihm vorbeigegangen wären. Dann hat er festgestellt, dass sogar ein Magdeburger, Erich Wiedemann, schon 1911 die Fabrik in Kindelbrück gegründet hatte. So schließen sich Zeitkreise.

Mein Versuch des Blickes nach vorn: Was erwartet Kalle für Veränderungen von der Intel-Ansiedlung? „Die seh ich noch nicht, glaub erst dran, wenn es tatsächlich losgeht, mit der Baustelle“, und weist dabei auf die auf seinem antiken Schreibtisch ausgebreitete „Volksstimme“, die er als Vormittagsritual immer ganz ausführlich liest. Er kann die Amis schlecht einschätzen, mit den Russen hätte er viel Wodka getrunken. Ob ihm nicht die hier zukünftig arbeitenden Amerikaner gerade wegen seinen antiken Raritäten die Bude einrennen werden? Kalle lächelt mich an und sagt dann ganz entspannt: „Nee, lass mal, die Geschäfte machen dann ganz andere.“   

Ich habe gar nicht gemerkt, wie viel Zeit ich schon in diesem Laden gelassen habe. Es war schön, sich darin zu verlieren und den Temponauten Kalle kennenzulernen. Draußen ist die Zeit nicht stehen geblieben, geschäftiges Treiben gegenüber am Biomarkt, ich muss schnell zum Bus, rüber in die Arndstraße. Da kommt schon der 52 um die Ecke, plötzlich geht es um Sekunden …

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