Samstag, 28. Januar 2023

# 001 Archäologie vom Ende zum Anfang – Januar 2023



Archäologie vom Ende zum Anfang – Januar 2023

Der Januar ist ein Ruhemonat, die Natur rastet, in der Erde des Bördeackers schläft noch die Kraft und Energie des Frühlings, an den Sommer ist noch nicht zu denken.

Wie tief haben sich hier die Engerlinge vergraben, in Erwartung eines harten Winters, der sich aber auch als mild erweisen könnte?

Zu DDR-Zeiten wurde im Bezirk Magdeburg von Geologen nach Öl und Gas gesucht, es wurde tatsächlich in der Altmark Gas gefunden und zeitweise als förderwürdig aufgeschlossen; vor Millionen Jahren entstanden, bis tausend Meter in vertikale Richtung. Öl, das schwarze Gold, fand man hier nicht.

Archäologen gehen auf dem Bördeacker, wo die Intel-Fabriken entstehen sollen, nicht so weit zurück. Zehntausend Jahre reichen, es geht hier um menschliche Hinterlassenschaften. Sie müssen auch nicht so tief schürfen, nur systematisch einen halben Meter, an "verdächtigen" Stellen ein, zwei Meter tief, um dieses Feld für die Zukunft freizugeben. Zurückgelassenes, Verstecktes, wie die mit Goldplättchen belegte Himmelsscheibe von Nebra, findet sich oft nur durch Zufall.

Weißes Gold war früher Porzellan, aber auch Salz wurde noch bis vor 200 Jahren als knappes Gut so bezeichnet, wird aber heute in dieser Region als günstiges Massengut gefördert. Heute ist weißes Gold auch sauberster Quarzsand, das zu reinstem Silizium weiterverarbeitet, in silbrig-grau glänzende Siliziumscheiben gesägt wird, so als Vorprodukt hier ankommen soll, um dann in der Zwei-Nano-Technologie zu High-Tech-Computerchips, quasi veredelt zu Gold, also zu viel Geld verwandelt werden soll.

Mittelalterliche Rodungen, um den fruchtbaren Boden für den Ackerbau zu nutzen, und klassische Flurbereinigung aus den 60er-Jahren sind von vorgestern. Hier findet eine neue Art der Rodung statt, von Stumpf, Stiel und organischen Substanzen, eine innovative Flurbereinigung. Eine Börde bleibt es, fruchtbar zwar nicht im landwirtschaftlichen Sinne, aber für die Obrigkeit und Industriebosse monetär Ertragreich, meinte doch Borde oder Börder, gebörde im Mittelniederdeutschen auch "ein der Stadt oder der Kirche abgabepflichtiges Gebiet". Hier entsteht ein für die Stadt Magdeburg vielversprechender Steuerbezirk im Stadtteil Ottersleben.


400 Hektar bester Börde-Schwarzboden dürfen nicht verloren gehen, also soll er abgetragen und in Gegenden verbracht werden, die es landwirtschaftlich nötiger haben. Als Ingenieur muss ich das gleich überschlagen, rechnen: Die Mutterbodenschicht ist hier circa einen halben Meter stark, macht zwei Millionen Kubikmeter oder ungefähr 400 LKW-Ladungen: Ein Jahr lang an jedem Arbeitstag.

Ein Verlust? Hier wurde bislang großflächig konventionelle Landwirtschaft betrieben. Monokultur, Wechsel von Weizen und Zuckerrüben, auch mal Kartoffeln, begleitet von Gülle, Dünger und Agrochemie. Die Frage "Intel statt Bio-Dinkel" stellte sich nicht.

Ob und was hier zukünftig aufgebaut, angebaut und produziert wird, hängt von Förderungen und Subventionen ab, wie in der Landwirtschaft.


"Die ersten Intel-Vorboten: Bagger haben bei Magdeburg auf dem zukünftigen Firmengelände Flächen freigelegt, damit Archäologen auf Spurensuche gehen können", heißt es am 28. Januar 2023 in der "Volksstimme". Im Bild ein Bagger, der einen Streifen des Geländes von Mutterboden blankgezogen hat.

Eine Vorwarnung war schon am 3. Dezember 2022 zu lesen "Intel: Jetzt rücken die Bagger an Landesamt wird mit 20 Mitarbeitern das 400-Hektar-Areal in Magdeburg unter die Lupe nehmen."

Das will ich auch tun.   

Selbst in Vergangenem schürfen?

Ich mache mich von der Magdeburger Stadtmitte mit dem Fahrrad auf den neun Kilometer langen Weg: Durch den Sudenburger Kiez, immer die „Halber“ (Halberstädter Straße) entlang, die zur Chaussee wird. Am Ende des aufgelockerten, dörflichen Stadtteils Ottersleben schräg rechts in die Wanzleber Chaussee, über die Autobahn: Schon von der Autobahnbrücke aus kann ich gut das links liegende weitläufige, von schmalen Wirtschaftswegen durchzogene ebene Gelände überblicken. Ich nehme gleich den ersten Feldweg links in das Gebiet hinein, wo, der Jahreszeit gemäß, fast nichts mehr wächst. Aber dafür die Hoffnung auf eine der deutschlandweit größten Industrieansiedlungen durch den amerikanischen Intel-Konzern.

Am Wegrand: Auf den Stock gesetzte Baumstümpfe, aus denen sich ein- oder zweijährige, kahle Schösslinge hochrecken. Man könnte ihnen andichten, dass sie ihr Dasein noch einmal demonstrieren, sich melden oder verzweifelt mit langen Fingern in die Luft greifen, als ob sie ahnen, dass sie nie wieder auf den Stock gesetzt, sondern mit Stumpf und Stiel entwurzelt werden. Eine andere Deutung könnte sein, dass sie sich nochmal strecken, locker machen, um dann stilvoll das Feld dem Fortschritt zu überlassen.

Ich sehe die von den Baggerschaufeln blankgezogenen Schneisen, wie in dem Zeitungsbild, drei- vier Meter breit, knapp einen halben Meter tief, bis zur Grenze, wo der Mutterboden auf hellen Unterboden trifft, einige dieser Erdlichtungen sind hundert Meter lang oder länger, an anderen Stellen schon wieder verfüllt, planiert, so dass nur noch eine Erdnarbe zu sehen ist. Wie nach einer OP: „Alles in Ordnung“, sagt die Operateurin, „kein Befund, wir haben nichts gefunden“.

In einer Schneise entdecke ich eine weitere Vertiefung, ein exaktes, handgemachtes, eckiges Loch, in den hellen Unterboden hinein, knapp einen Meter tief, ein glatter Querschnitt. Dunkle Erde ragt in die hellere nach unten hinein, scharfkantig, wie das Profil eines großen Topfes, eines Troges. Vielleicht ein Ofen, an dem vor Urzeiten Bronze oder Eisen geschmolzen wurde, eine Feuerstelle, ein Grab? 
Wie kommt diese
schwarze, vielleicht rußige Erde, genau an diesen ehemals unterirdischen Ort? Ich halte Abstand, weiß nicht, ob ich auf diesem Acker den Archäologen über die Schulter schauen darf, obwohl alles menschenleer ist, nur am südlichen Ackerhorizont mehrere Bagger, die sich hinter überdimensionalen Maulwurfshügelketten stoisch bewegen.


Schmutzige, kleine grüne Kartoffeln auf dem Feld vom gegangenen Winterfrost matschig, wenn man sie zwischen den Fingern zerdrückt verraten, dass hier bis zum Herbst ein Kartoffelacker war. Ein anderes Feld trägt noch lange Stoppeln, wahrscheinlich abrasierter Weizen. Neben den Betonplattenstreifen der Wege leere Zigarettenschachteln. Wurden sie noch vom

Bauern oder schon von den Baggerfahrern weggeworfen? Manche der Reifenspuren im Acker erinnern mich an die Fotos der Fahrzeugspuren auf dem Mond. Eine Fahne ist auch schon in den Boden gerammt: „STRABAG. Straßenbau AG“. Ein internationaler Konzern mit Hauptsitz in Österreich.

Den östlichen Horizont begrenzt die Autobahn A14 mit ihren wie an Schnüren vorbeigezogenen LKW-Reihen in Rot, Blau, Weiß, Silber und wieder Rot. Bringen etwas von A nach B. Hier, an der Abfahrt MD-Wanzleben, fahren sie noch vorbei.

Wie eine winzige Insel im Ackermeer, der umzäunte Baubüro-Container, zugleich Sammelstelle für gerade nicht erdbewegende Maschinen. Ein monoton brummendes Stromaggregat versorgt alles, auch die Video-Überwachungsanlage gegen Vandalismus und Diebstahl. Ringsumher viele rot-weiße Messpfähle, Pflöcke mit kleinen Fahnen, die stecken schon weitere Erkundungsschneisen in die Vergangenheit ab, werfen in der Spätnachmittagssonne Schatten aus westlicher Richtung.


Ich will nicht den gleichen Weg zurückfahren, verirre mich aber. Irgendwo frage ich einen älteren Herrn, der mich gleich duzt, nach dem Weg nach. Ich sei in Langenweddingen, erklärt er mir und dann umständlich den Weg nach Magdeburg. Als ich ihn verstanden habe und losfahre, fragt er noch, wo ich denn herkäme. Ich rufe, schon ein Stück entfernt, dass ich mir das Intel-Gelände angeschaut habe. Er ruft mir irgendeine Bemerkung zu Intel nach, die ich aber nicht mehr verstehe. Ob sie positiv oder negativ war? Egal. Ich muss noch vor der Dunkelheit zurück sein, weil ich meine Fahrradlampe nicht dabeihabe.


Aber: Eine verpasste Gelegenheit – das wird mir schnell klar, bin ich doch auf der Suche nach verschiedenen Aspekten zur Intel-Ansiedlung. Hätte er sie begrüßt, ob der wirtschaftlichen Impulse, oder verflucht, weil er die dörfliche Ruhe bedroht sieht? Ich brauche andere Sichtweisen zu den Themen High-Tech, KI und Solutionismus – die mich gerade beschäftigen seine Einschätzung, ob er in Intel auch das sieht, was von vielen  als Problemlösung erwartet wird. Die Meinung des alten Mannes, seine Einschätzung dazu wären ein Umkehren wert gewesen. Wir gehören der gleichen Generation an und wären uns vielleicht einig geworden. Bei einer ähnlichen Gelegenheit werde ich es tun.

Doch jetzt: Archäologie im Buckauer Boden

Buckauer Lametta

Erdlichtungen werden in den Bördeboden gezogen, um Zeitadern zu entdecken, die hier schon vor tausenden Jahren unter den heutigen Zuckerrübenäckern erstarrt sind.

Ich probiere mich in Transformationsarchäologie in der jüngeren Magdeburger Vergangenheit, finde verödete industrielle Adern der letzten 180 Jahre auf dem alten SKET-Gelände in Magdeburg-Buckau. SKET, „Schwermaschinen-Kombinat Ernst Thälmann“. Der Kurzname, nicht nur ein Synonym für die ehemalige Stadt des Schwermaschinenbaus, sondern auch für die Veränderung vieler Magdeburger Straßennamen vor gut 30 Jahren und ein Hinweis auf eine politisch-gesellschaftliche Transformation.


Ich bin unterwegs zwischen Buckauer Fabrikhallenfragmenten. Verrostete Pfeiler ragen wie zerschundene Finger acht, neun Meter in den Himmel. Sie haben bis vor 30 Jahren ein Scheddach getragen. Ich schürfe nach Buckauer Lametta. So nenne ich die verrosteten Dreh- und Hobelspäne, die ich aus dem Boden klaube, seit ich sie vor einigen Monaten zum ersten Mal beim Streunen durch die SKET-Industriebrache zufällig entdeckte. Die spiralförmigen und zugleich langgezogenen Formen inspirierten mich, sie als Weihnachtsbaumschmuck zu verwenden. Der Betonboden ist hier und da aufgerissen. Zwischen den wuchtigen Betonfundamenten, die früher die tonnenschweren Maschinen aufnahmen, um deren Stöße und Vibrationen in den Untergrund abzuleiten, verstecken sich wie Engerlinge in der Erde meine stummen, gewundenen stählernen Zeugen.

Suchgräben wie auf dem Acker sind hier nicht notwendig, Reste von Bodenkanälen sind zu erkennen, ehemals für Ver- und Entsorgungsprozesse. Mit der Erinnerung an meine eigene Metallberufsausbildung vor 50 Jahren habe ich plötzlich den typischen Geruch von dampfendem Bohröl in der Nase, sehe die Späne beim Bohren und Drehen wegspritzen, an der Hobelmaschine einen Arbeiter mit einem Wedel die angesammelten Späne von seiner Maschine wegfegen.

An den mehrreihigen, im Spalier aufgestellten Pfeilern sind trotz der Verwitterungen noch Kennzeichnungen zu erkennen. In Längsrichtung hat jede Reihe am Anfang einen Buchstaben, in Querrichtung jeder Pfeiler eine fortlaufende Zahl. Ich stelle mir vor, wie einer der Tausenden im SKET arbeitenden Menschen einst diese Zeichen als Orientierung und Navigation zu den Arbeitsplätzen in der riesigen Werkhalle brauchte. Jetzt ist wieder der trockene, kalkige Bauschuttmief zu riechen. Ob hier vor 150 Jahren die Maschinen über von Dampfmaschinen angetriebenen und oben angebrachten Transmissionswellen über Riemen angetrieben wurden?


Zuerst wollte ich das Buckauer Lametta veredeln, also sandstrahlen und mit Silber- oder Goldbronze streichen. Die kleineren Späne hätten es nicht überstanden, weil sie schon durch die starke Korrosion dünnhäutig, vielleicht nur noch von den Rost-Quaddeln zusammengehalten wurden. So entschloss ich mich, den Weihnachtsbaum mit den Fundstücken im Originalzustand zu behängen.  

Es ist nicht gestattet, dass hier jeder einfach herumstochert, fotografiert. Aber ich habe die Erlaubnis des Verwalters, der die Vision hat, dieses Areal auch mit Kultur zu revitalisieren, zu retransformieren. Neben einigen kleinen Dienstleistungs- und Logistikfirmen ist neuerdings ein Künstler, zugleich Maler und Bildhauer, mit seinem Atelier in einem sanierten Gebäude in der Nachbarschaft ansässig. Metall ist sein Lieblingskunstwerkstoff.

Etwa 80 % der alten Gebäude auf dem ehemaligen, 200 Hektar großen SKET-Gelände, sind abgerissen. Im ehemaligen, jetzt schick sanierten und restaurierten SKET-Hauptverwaltungsgebäude, ist seit über 10 Jahren die „regiocom“ eingezogen. Das europaweit tätige Magdeburger Unternehmen bietet IT-Services durch elektronische Abrechnung für die Energie- und Telekommunikationsbranche.

In der großen Eingangshalle ist ein umlaufender Fries gezeichnet, mit ungefähr 100 zivilen und militärischen Produkten, die hier seit Mitte/Ende des 19.Jahrunderts hergestellt wurden.

 

 


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