Montag, 29. Mai 2023

# 013 Vom Mai-2023 Flug über die Intel-Börde

Von Fragen aus dem Off und vom Bedürfnis nach Vertrauen

„Ich darf Sie fliegen, wo soll's denn hingehen?“, fragte mich der großgewachsene Mittfünfziger, der tatsächlich eine typische Piloten-Sonnenbrille trug. „Ich möchte mir gern das Intel-Gelände und dessen Umgebung von oben ansehen und es fotografieren“, gab ich meine Wünsche kund.

Wir rollten in der kleinen zweisitzigen Propellermaschine zur Startbahn des Magdeburger Flugplatzes und erreichten die Startposition. Wie der Pilot hatte ich einen Kopfhörer aufgesetzt, damit wir uns trotz des lauten Motors und der zu erwartenden Windgeräusche via Bordfunk unterhalten könnten. Ich entdeckte vor mir die Tankanzeige, die nur noch ein Viertel-Füllung anzeigte. „Reicht das?“, fragte ich gespielt-ängstlich den Piloten. Etwas ernst war meine Frage aber schon, es hätte ja sein können, dass er das nicht gecheckt hatte. Er lächelte und rief: „Ja, ja, keine Angst, das passt!“ Die Frage nach Fallschirmen verkniff ich mir.

Ich beschloss, dem mir bis eben völlig unbekannten Menschen zu vertrauen. Was blieb mir anders übrig, wenn ich meinen Rundflug-Gutschein endlich einlösen wollte? Früher war ich öfter als Passagier in großen Maschinen in der Welt unterwegs gewesen, aber ich hatte mir nie die Vertrauensfrage gestellt. Doch hier in der Magdeburger Sonne war das noch „richtiges Fliegen": Nur der Pilot und ich in einem Leichtflugzeug, ausgeliefert den Gesetzen der Physik, den Turbulenzen und dem zuverlässigen Funktionieren des „Aeroplans“. Mein „Flying Trust Man" links, ich rechts.


Abgehoben

Ich hielt meinen Fotoapparat bereit, als wir in westlicher Richtung starteten. Es war schönes Wetter an diesem Maitag, kaum Wind, Sonne und nur vereinzelte Wolken am Himmel. Als wir aufstiegen, war es etwas diesig, sodass uns die Fernsicht auf den Brocken verwehrt bleiben und meine Fotos etwas milchig werden würden. „Die Stunde Flugzeit sollte für das Intel-Gelände reichen, und wir schauen uns noch die Teufelsmauer bei Ballenstedt an", tröstete mich der Pilot über Kopfhörer.


Am Rande des Flugplatzes lauerten Segelflieger auf die Aufwinde durch die Nachmittagsthermik, deren Entwicklung sich gerade mit der Bildung von Kumuluswolken ankündigte.

Gleich kam das Intel-Gelände rechts in Sicht, aus tausend Meter Höhe gut zu lokalisieren, weil links davon die ausgedehnten, weißen Dächer der Logistikfirmen im angrenzenden Langenweddinger Industriegebiet auszumachen waren.

Wir drehten im Uhrzeigersinn eine weite Runde um das Intel-Areal, dabei etwas nach rechts gekippt, damit ich mein Zielobjekt gut fotografieren konnte. Wegen der besseren Sicht flogen wir etwas unterhalb der Wolkenschicht, auch wenn in diesem Bereich die Maschine in den dort herrschenden Luftbewegungen etwas durchgeschüttelt wurde. „Ein Service des Hauses“, so der Flugzeugführer gut gelaunt. Das Intel-Gelände war wie durch eine Schraffur markiert. Man sah deutlich die systematischen Erkundungsstreifen, von den Baggern für die Archäologen gezogen. Die Fläche wird nicht mehr landwirtschaftlich genutzt, einige Teilflächen waren schon „schwarzgezogen", damit es keinen Wildwuchs gibt. Als ich meine Bilder im Kasten hatte, nickte ich dem Piloten zu, und er drehte in Richtung Südwesten ab.


Wir ließen Staßfurt unten links liegen und stiegen etwas höher in ruhigere Luftschichten. Im Dunst war der Harz am Horizont nur zu erahnen. Geradeaus unter uns der Flughafen Cochstedt, nun ein Erprobungszentrum für Drohnen. Der Pilot berichtete, dass über ein Forschungsprojekt nachgedacht würde, bei dem zwischen Cochstedt und dem Eulenberg ein 5G-Mobilfunk-Korridor eingerichtet werden soll, über den automatisierte Transporte mit Drohnen zu Intel durchgeführt werden könnten. Ein Pilotprojekt ohne Piloten. Cochstedt käme auch zukünftig für die Landung der Lear-Jets der Industriebosse infrage, weil man dort über eine längere Landebahn als in Magdeburg verfügt.

Dann kam die Teufelsmauer in Sicht, die ich vor einigen Jahren schon als Wanderer besucht und damals als spektakulärer empfunden hatte als von hier oben. Dann drehte der Pilot in nördliche, dann in nordwestliche Richtung ab, auf Oschersleben zu. Unten erstreckte sich die Börde mit den blühenden, knallgelben Rapsfeldern und dem satten Grün des Winterweizens und der Gerste.Formularbeginn

„Warum soll man nicht von den Erfahrungen von Tesla profitieren?", sagte der Pilot unvermittelt. Ich war irritiert. Flogen wir über Grünheide? Aber er war konzentriert, ruhig und hatte einen schweifenden Adlerblick, den Horizont entlang. Wir waren ja im Sichtflug. „Was haben Sie gesagt?", fragte ich ihn, um die Frage einordnen zu können. „Ich habe nichts gesagt. Ich habe auch gerade im Kopfhörer etwas mitbekommen. Das hatte ich in dieser Gegend schon einmal. Unter uns ist die Autoarena Oschersleben, die haben in dem Hotel öfter Tagungen. Mir hat mal ein Funkspezialist erklärt, dass, wenn sie bei den Veranstaltungen diese Funkmikros verwenden, ein so genanntes Übersprechen auf unsere interne Verbindung hier im Flugzeug möglich sein könnte."

Dann wieder im Kopfhörer: „... große Unsicherheiten: Wie steht es denn jetzt um die Intel-Ansiedlung?" Sprach da unten jemand über das Intel-Projekt? Ich konnte den Piloten dazu bewegen, etwas tiefer zu gehen und über der Motorsport Arena eine Runde zu drehen. Ich schnappte mir meinen Notizblock. Tatsächlich hörte ich etwas deutlicher Männer- und Frauenstimmen, und so konnte ich einige Gesprächsfetzen, darunter viele Fragen, festhalten:

… nicht nur bei uns viele Kritiker und Kritikerinnen, da spielt natürlich der Umweltaspekt eine große Rolle … dann kam die gute Nachricht in den MDR-Nachrichten, witzigerweise vom Wirtschaftsminister via Selfie-Video aus Silicon Valley: Ja, es wird die Investition geben, der European Chips Act ist beschlossen …

Ist es ein Risiko, nur auf einen großen Investor zu setzen?

Was bedeutet eine Großinvestition für unsere Region, welche Möglichkeiten …und ist sie Fluch oder Segen?

Was können Sie von dem Treffen in Arizona berichten?

Die Zusammenstellung der Delegation war schon intelligent … und alle konnten das Haar in der Suppe suchen, nichts gefunden … immer die Gesprächspartner gefunden, in St. Clara und Arizona. Das war so authentisch …


Kommt denn Intel nun oder nicht?

… wussten ja nicht sicher, ob er kommt oder nicht. Auf einmal geht die Tür auf, er, – Pat Gelsinger! – kommt rein, schenkt uns Zeit, mit den Kommunalvertretern sprach er in beeindruckender Weise, ging auf sie ein, beruhigte erboste Bürger in zehn, zwanzig Sekunden.

… fast wie der Hype um Elon Musk?

Hier im Lande? Bei den Leuten! Auch alle im High Five Gap? Hm, ach, mehrheitlich ja, es gibt natürlich auch immer wieder … keinen gegenseitigen Kannibalismus betreiben …

Aber Sie kommen mit guten Nachrichten?

… viele gute Leute kommen von außen. Die schlechte Nachricht: Die gehen wieder.

Wo wohnen die Mitarbeiter? … aber ohne Palmen. Tesla war für Grünheide wie ein Sechser … Wohnungsanfragen von Island bis Brasilien.

Wie sieht das heute aus? Wasser spielt eine Rolle …

Private Gärten mit englischem Rasen, mindestens ein Swimmingpool, … da wird auch viel Wasser verbraucht.

Erfahrung mit großen Arbeitgebern wie SKET, von der Dimension her können wir das …

Profil „Mikroelektronik“, bislang nicht vertreten … Halle hat da mehr Kompetenz.

… den Demographie-Trend können wir nicht umkehren. Automatisierungstechnik, KI für Wissensberufe, neue Medien, neue Tools in die Arbeitswelt und …  

Wie optimistisch sind Sie, dass es genug Fachkräfte für Intel gibt? Ich hab’s versprochen … das kriegen wir hin.

Intel braucht euch in der Forschung nicht, sonst hätten sie schon gefragt, Pat Gelsinger und seine Leute können das schon …

Spüren Sie den Druck, weil es schneller gehen muss? Wir sind langsam, aber dem Ministerium gegenüber noch schnell, Berufsschullehrer kann man nicht backen.

Was ist an Intel sexy? Welche gesellschaftliche Relevanz? … müssen Story erzählen.  Diversität. Gelsinger will 50% Frauen! Good luck!

… Haselhoff sollte das zur Chefsache machen.

Deutschland: 4. Platz bei internationalen Studies, aber 50. Platz bei: Wohin nach dem Studium …

… nicht hinter verschlossenen Türen wuppen, das wäre letztlich ein Fiasko. Intel hat großes Interesse, dass sie gewollt sind.

Kultur für Magdeburg eher schwierig, von der Mentalität her, das Meckern …

Das geht so schnell, ich glaub, das weiß hier noch keiner.

Welcher neue Wohnraum wird wann gebraucht, was gibt es an Planungen …?  

… wir wollen nicht an die Wand gestellt werden, als die, die anderen …  Wasser wegne...


Weiter

Die seltsamen Stimmen gingen im Rauschen unter. Schade, ich hätte gerne noch mehr mitbekommen. Im Nachhinein wundere ich mich, was ich doch alles aufschnappen und notieren konnte. Aber nach der dritten Runde gab mir der Pilot ein Zeichen, tippte dabei auf den Tankanzeiger. Ich nickte zustimmend, so dass er direkt Kurs auf Magdeburg nahm.


Über Wanzleben gewannen wir wieder Höhe. Dann unvermittelt eine Frage aus dem Off im Kopfhörer. Eine Stimme, die ich bislang noch nicht gehört hatte: „Wann kommt denn mal eine Großansiedlung, wann wollt ihr den Abstand zu großen Städten im Westen aufholen?" Der Pilot und ich schauten uns verwundert an. „Bestimmt eine Veranstaltung unten im Restaurant ‚Burg Wanzleben', wieder Funkmikros", meinte er lachend und schüttelte dabei ungläubig den Kopf. Ein Zufall kommt selten allein, dachte ich und bat den Piloten mit einer Handbewegung, noch einmal etwas tiefer zu gehen und eine Runde als Zitaten-Kescher zu drehen.

Er wirkte unentschlossen, zeigte mir jedoch mit seinem kreisenden Zeigefinger, dass nur eine Runde möglich wäre. Ich griff wieder zu meinem Notizblock und konnte einige Bruchstücke auffangen, wobei mir eine der Stimmen irgendwie bekannt vorkam:  

… harte Verhandlungen, der MP hat auch mitgemacht, nach Berlin gefahren, Gespräche mit der Kanzlerin und Pat Gelsinger … wie immer bei großen Entscheidungen ging es ums Geld.

Was ist das denn da oben für eine Fläche? Reservefläche neben dem Supplier Park in Sülzetal.

Der Krieg hat alles verändert, nicht feiern, wenn woanders Krieg ist

… Bördeboden bedeutet Diskussionen.

Wenn das losgeht, werden Sie diese Gegend nicht wiedererkennen, nicht erst wenn es fertig ist.

Wieso gehen die nach Magdeburg, in den Osten?

  und dann sagen die Leute: Glaube ich alles gar nicht … es geht aber im Leben nicht ums Glauben, es geht um die Frage, was realistisch ist, ob das alles so toll wird …

 sind noch in der Wackelphase.

… wenn man aus einer kleinen Stadt kommt, aus der Enge, da war, über den Horizont zu schauen, wirklich ein Fest.

… Zusammenarbeit, wir sind ja nicht schlecht, aber es reicht noch nicht aus … aber es kommt nicht von Null auf 100.

Man kann sich nicht vorstellen, was da auf uns zukommt …

 da sollte man rechtzeitig dran sein, damit unsere Leute daran teilhaben und nicht nur von außen einfallen.

Dass nicht alle dafür sind: klarer Fall.

… was ist neu? Die Strommenge wird zur Verfügung gestellt, das ist bei Intel nicht das Problem, zentrales Thema ist Wasser.

… Wasser in der Elbe … kann genutzt werden, die brauchen aber sehr reines Wasser … wird in Elbe zurückgehen … das geht auf den Acker! … nein, das geht zurück in die Elbe!

Fakt ist aber, wir sind an einem Punkt, wo es deutlich mehr Fragen als Antworten gibt.

Was ist mit meinem Acker? Brauchen die mich überhaupt?

… Handwerker, wenn ich welche brauche oder sind die alle bei Intel?

Was ist mit der Feuerwehr, wenn es Verkehrsunfälle gibt?

Was ist mit den Kindergärten und Grundschulen? Wanzleben hat nicht das Geld …

… Bürger an die Hand nehmen, um zu klären, wenn das Wasser im Garten verschwunden ist.

Gibt es ein Konzept, wie die Erde nicht über die Lindenpromenade abgefahren wird?

… von heute auf morgen ist nicht alles umzusetzen … Intel war von keinem vorauszusehen, deswegen gibt es dafür auch keinen Masterplan.

… Überdachung eines Fahrradweges von Wanzleben nach Magdeburg. Soll das wieder was werden?

Wo ist der rote Faden der Veranstaltung, die Bürger wollen eine Strategiekommission für Straßenverkehr, Schienenverkehr, Flugverkehr?

Was ist im Moment hierarchisiert?  Alles wabert auseinander. Da bin ich im Denken bei Ihnen.

… finanzieren vor, am Ende refinanzieren wir und bekommen nachher mehr raus.

Wenn Intel jetzt Ja sagt …

Mit der Geschwindigkeit, die wir jetzt haben, wird es nicht reichen. Wir werden gegen die Wand fahren.

Eine Veranstaltung, auf der alles beantwortet wird, kann man erst in zwei Jahren machen …

Wir sollten stolz sein auf die Intel Ansiedlung und nicht immer alles negativ sehen.

… hier wurde nur gegengearbeitet, wir hatten mal Kultur hier, aber der Radweg? Nichts, gar nichts, nur Ausreden, denkt man an den Bördeboden, so durfte der für den Radwege nicht weggemacht werden, jetzt kommt Intel und man haut alles weg.

Doch, wir haben Kultur: Osterfeuer am Feuerwehrhaus, Maifeier, Stadtführung …zweimal in der Woche kann man teilnehmen, also nicht immer sagen, dass nichts passiert, aber wir holen die Leute nicht vom Sofa ab, aus der Haustür müssen sie schon mal kommen.

30 Jahre ist nichts passiert, das liegt daran, das wir keinen Mut für die Investitionen haben, können … mitgestalten … mitzumachen …  Kommunalwa…


Wieder geerdet

Das Rauschen übertönte die Offstimmen. Der Pilot hatte den Anflug auf Magdeburg begonnen. Der Wind hatte sich gedreht, und der Auftrieb durch die Thermik machte es erforderlich, dass wir, von Westen kommend, mit einer Slip-Landung sauber aufsetzten und wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Die kleine Kiste, Leergewicht nur 300 Kilo, war kein Spielball der Lüfte mehr.

Ich bedankte mich und verabschiedete mich vom Piloten. Er freute sich, dass es nicht nur ein Routine-Rundflug gewesen war, auch wenn er etwas länger gedauert hatte. Dafür hätte ich ja Bilder und Aufzeichnungen dieser „Geisterstimmen" machen können. Der nächste Rundflug wartete schon, er musste nur noch schnell die Maschine auftanken.

 

Philosophisches

Nicht als „Geisterstimme“, sondern als Notiz in meinem Schreibblock finde ich das Zitat: „Vertrauen reduziert Komplexität, und Transformationsphasen sind immer Phasen, in denen alles höchst komplex ist, wo also die Unübersichtlichkeit sozusagen der Normalzustand ist. Und da kommt dem Vertrauen ein ganz, ganz wichtiger Wert bei, und zwar in allen möglichen Bereichen. (...) Vertrauen heißt im ökonomischen Zusammenhang Planungssicherheit.“

(Harald Lesch, Astrophysiker, Naturphilosoph, Wissenschaftsjournalist) in Anlehnung an die Überlegungen des Philosophen und Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998)

 

 

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