Montag, 23. Dezember 2024

# 078 Trost - im Dezember 2024

Trost suchen - Trost finden - Trost geben

Notiz am Tag nach dem 20. Dezember 2024 – dem Tag des Anschlags auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt:

Magdeburg, geschundene Stadt.

Jeder hat seine Art, mit diesem Geschehen umzugehen. Heute, im Edeka-Markt, kam es mir vor, als wenn alle Menschen einen Tick langsamer wären als sonst, beim Gehen, an der Kasse, im Kopf, die Gesichter ernster, kurze Blickwechsel zeigen mir, dass wir wissen, was den anderen gerade beschäftigt, welche Gedanken sich hinter seiner, ihrer und meiner Stirn stauen. Vielleicht ist die eine oder andere Ausgleichsmöglichkeit für den inneren Druck angebracht, allein oder auch gemeinsam, z. B. zum Dom zur Gedenkveranstaltung zu gehen, im Gespräch, im Austausch, ohne das Unfassbare verstehen zu können, ohne gleich in Aktionismus verfallen zu müssen.

Skulptur vor der Magdeburger Johanniskirche „Mutter und Kind", 1982 von Heinrich Apel (1935 - 2020) - Foto von der Webseite der Stadt Magdeburg 

Zurück vom Einkauf, flüchte ich wieder, ohne Handy, vor den Nachrichten, suche eine offene Tür, Gespräche mit Menschen über das, was uns auch in den Körpern steckt. Die offene Tür ist die der Freien Evangelischen Gemeinde am Hassel. Ich laufe vorbei, zweimal, dreimal, wage mich nicht näher heran, ich bin ja kein Kirchgänger, verschwinde um die Ecke in die Nebenstraße. Ich schaue zurück, mir winkt jemand zu, ruft etwas. Eine Frau: Sie hätte mich von drinnen am Hut erkannt. Es ist die Frau des Pastors, sie lotst mich in den Raum, zu den anderen. Ich glaube, sie hat mir nicht abgenommen, dass ich „rein zufällig“ vorbeikam. Gefreut haben wir uns beide. Ich komme mit den mir meist fremden Menschen ins Gespräch. Anders als in den Medien, tun hier die Wiederholungen und Erklärungsversuche des Unfassbaren nicht mehr so weh.

Am nächsten Morgen, 4. Advent,

stelle ich fest, dass ich am Tag zuvor mir neben der seelischen auch eine körperliche Erleichterung verschafft habe. Ich vermisse meinen Rucksack. Meinen Rucksack vergessen, eine schöne Metapher, denke ich. Ich muss noch einmal in den Kirchenraum zurück. „Dir geht es nicht gut, oder?“, fragt eine Frau: „Mir? Doch, doch, es geht schon wieder.“ Mit geschultertem Rucksack, den Hut auf dem Kopf und eingehakt bei einem lieben Menschen, kann ich nach Hause gehen.

Samstag, 21. Dezember 2024

# 077 Tradition und Transformation in der Magdeburger Börde – Flashback

Transformation ist in der Magdeburger Börde seit der geplanten Intel-Ansiedlung nichts Neues. Die Agrarlandschaft wirkte auch früher industrialisiert, etwa durch Ziegeleien, Zuckerfabriken, Eisenbahnen, Feldbahnen, Maschinenbau, Saatzuchtbetriebe.

Der Schriftsteller Albrecht Franke beschreibt in seinem Hörspiel „Remkersleber Vorbeimarsch“ Aspekte der Transformationsbewegungen in dem zur Gemeinde Wanzleben gehörenden Bördedorf. Heute ist Remkersleben ein Teil von Wanzleben und befindet sich so in der Nachbarschaft des gerade entstehenden High-Tech-Parks, im direkten Umfeld des Intel-Ansiedlungsgeländes.

Dass man das Thema Transformation als einen weit ausgreifenden gesellschaftlichen Prozess begreifen muss, also nicht nur im unmittelbaren Kontext mit der Industrialisierung, sondern dass sich durch Politik, Religion, Wirtschaft die Gesellschaft insgesamt bis in familiäre Strukturen hinein, verändert, wird in Albrecht Frankes Hörspiel deutlich.

Wir hören und sehen Aspekte dieser Transformationen in Remkersleben in den letzten 150 Jahren: Die Einflüsse fünf verschiedener politischer Systeme, die Wandlung der Bedeutung der Technik und Religion, die wechselnden hierarchischen Strukturen in der Börde, bis hin zur Veränderung der Einstellung zum Militarismus und dem Verschwinden des Bördeplatts, werden hier, angelehnt an eine authentische Familiengeschichte, deutlich. Aber keinesfalls verklärend und romantisierend, wie in manchen Remkersleber Erinnerungen des in dem Hörspiel zitierten Schriftstellers Franz Herwig (1880 – 1931).

Das Hörspiel ist eine Art Flashback des Autors mit Assoziationen, eigenen Erinnerungen und Zitaten aus Recherchen über die letzten 150 Jahre in Remkersleben.

Details und Uraufführung:

Weitere Details zu dem Hörspiel und eine Hörprobe sind auf Youtube unter https://youtu.be/jBQ5OstNv5U zu finden.

Die Uraufführung des Hörspiels im Beisein des Autors und des Produktionsteams wird am 24. Januar 2025 ab 18 Uhr im Remkersleber Bürgerhaus (Hauptstr. 17, 39164 Wanzleben-Börde Ortsteil Remkersleben) stattfinden.

Donnerstag, 12. Dezember 2024

# 076 Ausgemistelt - Hinterm Horizont nichts weiter? Magdeburger Transformation

Dort, wo in Magdeburg der Breite Weg die Ernst-Reuter-Allee kreuzt, steht auch Ende 2024 in der Advents- und Weihnachtszeit am Allee-Center ein Objekt der Lichterwelt. Es heißt in diesem Jahr in der offiziellen Liste (MD_Lichterwelt-Karte_2024.pdf) noch „Intel-Mistelzweig“.

Intel ausgemistelt?

Der Standort ist aber in dem dazugehörenden Lageplan nicht eingezeichnet. Ist man an der besagten Kreuzung, befindet sich dort doch die Lichtinstallation, allerdings ohne den Spruch der beiden letzten Jahre: „Happy to be in Magdeburg“, das krönende Intel-Logo darüber fehlt. Die Intel-Version ist aber noch als Foto auf der Startseite der Lichterwelt-Internetseite zu sehen. Virtuell ist der „Intel-Mistelzweig“ noch vorhanden, in der Realität ist erst einmal ausgemistelt. Symptomatisch für die aktuelle Situation?

Ich möchte kein Salz in noch frische Wunden streuen und die Vorweihnachtszeit nicht mit schlechter Stimmung vermiesen, denn geblieben ist der hoffnungsvolle, stilisierte Mistelzweig unterhalb der Spitze der sich kreuzenden Tannengrünbögen.

Missgeschick Intel-Mistel-Kiss verpasst

Um den Mistelzweig ranken sich viele Mythen, viele Bräuche sind damit verbunden. Hätte man sie ernster nehmen müssen? Hätten sich unsere Oberbürgermeisterin Simone Borris und der gerade ausgeschiedene Intel-CEO Pat Gelsinger sich in der Adventszeit 2022 unter diesem Mistelzweig geküsst … Wäre es vielleicht dann nicht zur Trennung (auf Zeit) gekommen?

Hätte Ministerpräsident Reiner Haseloff unter dem Mistelzweig am Allee-Center einen Bruderkuss mit Pat Gelsinger im Advent 2023 getauscht, wäre dann die schwebende Scheidung nicht aufs Tableau gekommen? Aber Bruderküsse führen nicht immer zum Zusammenbleiben, wie die Geschichte beweist. Erich Honecker und Leonid Breschnew schienen sich auch zu mögen und küssten sich, wie noch heute das ikonografische Graffiti an der Berliner Mauer zeigt. Was wäre passiert, wenn die beiden die Zärtlichkeiten unter einem Mistelzweig ausgetauscht hätten?

Mistel-Mythen und Sagen wagen

Die weißbeerige Mistel (botanisch Viscum album) ist auch weiterhin ein freundlicher Magdeburger Willkommensgruß. Sie wird seit dem 19. Jahrhundert als Weihnachtsschmuck verwendet und ist beispielsweise als Türdekoration sehr beliebt, auch wenn sie als Halbparasit ihrem Wirt Wasser und Nährstoffe entzieht. So bei Wikipedia nachzulesen.

Der Mistel werden geheime Kräfte zugesprochen. Die Pflanze soll Gesundheit, Fruchtbarkeit, Mut und Glück bewirken. Die Griechen der Antike sahen in ihr ein Mittel gegen Gift. Andere Völker, wie beispielsweise die Germanen, waren der Ansicht, dass sie die Menschen beschütze. Den Druiden diente sie als magische Beigabe und war auch für Miraculix in „Asterix und Obelix“ eine wichtige Zutat für den Zaubertrank.

Man tut also gut daran, die Misteltradition in Magdeburg fortzuführen. Wer weiß, von wem der zukünftige Intel-CEO, wenn er einmal nach Magdeburg kommen sollte, geküsst wird. Die Mistel ist das richtige Symbol für die Perspektive, die ich aufzeigen möchte. 

Manche Bilder brauchen Worte, manche nicht ...


Neulich stand ich an einem ungemütlichen, nasskalten Dezembertag an der schon fertiggestellten B-81-Abfahrt zur geplanten Intel-Ansiedlung. Die Abbiegespur aus Richtung Magdeburg wird nach nur wenigen Metern mit fünf kräftigen Betonpollern blockiert, als wäre dahinter ein Weihnachtsmarkt. Hundert Meter weiter endet der glänzende Bitumenpfad stumpf am Bördeacker, dem Feldhamster-Niemandsland, wo sich Fuchs und Hase in Kürze „Frohe Weihnachten“ und „Prosit Neujahr““ wünschen werden. 

Keine Märchen

Diese Straße wird früher oder später weitergebaut, da bin ich sicher. Vielleicht führt sie doch noch zur Intel-Chipfabrik? Zurzeit scheint es wahrscheinlicher zu sein, dass sie in einigen Jahren zu einem anderen Großunternehmen führt, oder ist die Abfahrt für breite Großkonzerne verpollert , so gibt es zwischen den Pfosten Lücken, durch die schmale Unternehmen schlüpfen könnten. Transformation wird auf jeden Fall stattfinden, sie lässt sich nicht aufhalten, so oder so. Durch die nun zusätzlich zur Verfügung stehende Zeit könnte sie heilsamer, ökonomischer und ökologischer werden, auch wenn bis dahin noch viel Wasser die Elbe hinunterfließen wird. Alles fließt, panta rhei. Auch die Zeit, in der die durch das „Projekt Intel“ geschlagenen Wunden im gegenseitigen Respekt geheilt werden könnten. Engagement in Sachen Transformationsbegleitung ist also weiter gefragt. Wenn man auf dem Foto des Straßenstumpfes ganz genau hinsieht, sind auf der Baumreihe am Horizont eine große Menge dieser kugelförmigen Mistelgebilde zu entdecken. Genug für viele Küsse, ausreichend für Zaubertränke. Von wegen: Am Horizont nichts weiter.


Blog geht weiter – Round Table zur Transformation

Auch dieser Blog geht weiter, wenn auch nicht mit der bisherigen Schlagzahl, Slow Motion ist angesagt. Ich fühle und zähle also weiter den Pulsschlag der Magdeburger Transformation.

Ich werde auch darüber berichten, wie sich aus dem harten Kern der Teilnehmer meiner Vorträge in der Stadtbibliothek ein Round-Table-Gesprächskreis aus Magdeburgern und Magdeburgerinnen entwickelt und was dort passiert. Einige Personen haben dafür Interesse gezeigt. Ein erster Termin für Januar 2025 ist in Vorbereitung und wird an dieser Stelle in Kürze veröffentlicht. Machen Sie, lieber Blogleser und liebe Blogleserin, auch mit? Dann bekunden Sie mir gerne unter beesten@HerbertBeesten.de Ihr Interesse.  Sie bekommen den Termin direkt zugesandt. Ich freue mich auf euer Kommen!

Mit meinem Lektor Albrecht Franke, der immer im Hintergrund für Blog-Qualitätskontrolle gesorgt hat, wünsche ich allen Followern angenehme Feiertage und einen guten Rutsch und neue Jahr, mit oder ohne Mistelzweig!