Mir fällt ein Gespräch mit einer Kollegin ein. Sie ist
etwa so alt wie ich, und sie erinnerte sich an fahrende Züge. An einen
Sonderzug gar. Nach Karl-Marx-Stadt im Mai 1967. Es war warm zum Pfingsttreffen
der FDJ, es gab wohl noch den Optimismus des Aufbruchs, der Jugendlichkeit. Der
Sonderzug bestand aus Güterwagen, trotzdem empfand man die Mitfahrt als
Auszeichnung. Achtzigtausend oder neunzigtausend junge Menschen, atemlos
gewissermaßen bei der Abenteuersuche. Es gab den „Oktober-Klub“ zu sehen, man
sang mit, war fröhlich. „Ich war nicht mehr dort, seit Karl-Marx-Stadt wieder
Chemnitz heißt“, schloss sie.
„C the unseen“ passt, denke ich. Aber kein Sonderzug nach
Chemnitz, kein RE nach Leipzig, nur Nebel. Unplanmäßig sind wir in Halle, von
dort mit der S-Bahn nach Leipzig, endlich den RE 6 Richtung Chemnitz erwischt.
Im Vorbeifahren lerne ich mir bislang unbekannte Ortsnamen kennen: Großpösna,
Otterwisch ... Reisen bildet. Ein gutes Omen: Blauer Himmel in Chemnitz, C sees
the sun. Bunter Empfang. Menschen, Hinweisschilder, Alte, Junge, Programmflyer,
Familien. Philipp zu seinem, ich erstmal zu meinem Hotel, Rucksack abwerfen.
Schwarzer Block? Demo vor meinem Hotel, junge Menschen aus
der Antifa-Bewegung, Basswummern, Parolen gegen die Rechten. Am Telefon der
Kollege: Die Braunen marschieren gerade vor seinem Hotel. Polizisten müssen
sich an dem Katz-und-Maus-Spiel beteiligen. Bunter und größer: Die dritte Demo
kommt mir entgegen: Alt, Jung, Familien, Lachen, Luftballons und bunte Fahnen,
Kinderwagen, Lieder, Transparentaufschriften fordern Zusammenhalt.
Die Fröhlichkeit der Menschen in der Innenstadtstadt lässt
die Demos vergessen. Volksfest mit Musik, auch Infostände, Bühnen, Tanz und
Sport, Sanitäter, Nachmittags-Outdoor-Rave, Bier, Würstchen, Polizei, Döner,
Straßenkünstler, Sportlerinnen auf Bühnen. Große Monitor-Wände, die die
Eröffnungsfeier aus der Oper live übertragen. Davor geduldige Schlangen an den
Bierbuden, die Menschen reden miteinander, haben wache Augen, manche lächeln.
Wir behalten die gestylten Plaste-KUL-TUR-BECHER als Souvenir.
Wir sichern uns Stehplätze vor der großen Bühne. Noch fast
zwei Stunden bis zur Show, die Sonne sinkt, es geht auf null Grad zu, der Platz
füllt sich. Wie in sich ruhend das Karl-Marx-Monument, in C liebevoll „Nischel“
genannt, in dezentem grau-weißen-Licht, die überdimensionale Showtreppe steht
ihm bis zum Hals, wie Schweiß von der Denkerstirn perlt ihm helle
Taubenscheiße. Der Riesenkopf, der sich „Das Kapital“, ausdachte, wie
eingefangen unter dem Halbrund des transparenten Bühnendachs. C „The Capital of
Culture“. Es dämmert. Rechts und links der Bühne Batterien von Scheinwerfern,
die Lichtfächer in den Dunst stanzen. Im Hintergrund dezente
Elektro-Lounge-Musik. Warmhalten und die Logistik klären! Wo sind die
Toiletten? Noch einen heißen Kinderpunsch, Glühwein, eine Bratwurst oder
Falafel. Oder doch ein Bier? Es wird voller, enger. Mäntel und Jacken gehen auf
Tuchfühlung.
„Wir müssen uns etwas einfallen lassen, uns warmhalten,
vielleicht eine Aktion mit den Leuten um uns herum?“, versuche ich meinen
Kollegen zum Mitmachen zu motivieren. „Es dauert noch eine halbe Stunde, bis es
losgeht.“ „Du hast doch bestimmt schon eine Idee, oder?“, vermutet er. Der Ball
ist wieder bei mir. Hinter uns ist eine
gut gelaunte Frauen-Clique in fast aufgekratzter und übermütiger Stimmung.
Einiges habe ich von ihren Gesprächen mitbekommen, manches wegen ihrer
sächsischen Aussprache nicht. Ich spreche sie an, ob sie mitmachen würden, die
anderen zum gemeinsamen Aufwärmen zu bringen. „Jetzt gehts los! Jetzt gehts
los!“, skandieren wir, klatschen im Takt mit. Leider steckt es andere nicht an, aber wir kommen ins Gespräch und "outen" uns als
Magdeburger. "Wir wären auch gern Europas Kulturhauptstadt geworden, aber
ihr habt das Rennen gemacht. Herzlichen Glückwunsch, wir wünschen euch ein
schönes Jahr!" „O je,
bei euch ist ja das Schreckliche passiert, schlimm.“ Die erste Reaktion. Ja,
schlimm.
Es sind begeisterte Chemnitzerinnen, sie schwören auf
europäische Verständigung. Ich lerne, dass zu Karl-Marx-Stadt-Zeiten die
Abkürzung KMS sächsisch so vernuschelt wurde, dass „CMZ“ als vernischeltes
„Chemnitz“ verstanden werden konnte, wenn man wollte. Aber die Frauen stehen zu
ihrem Karl. Auch wenn seine Ideen vom Sozialismus inzwischen Patina
angesetzt haben: Sie hatten etwas! Nur was daraus gemacht wurde ... Ich
glaube, sie mögen ihren „Nischel“.
Wir erzählen von unseren Städten und finden Gemeinsamkeiten in Größe, Struktur, Geschichte. C und MD haben beide keinen regulären ICE-Anschluss. Das solidarisiert.
Nun wie vorher wieder die gediegene Lounge-Musik, der
Marx-Kopf wieder in stabilen Grautönen, die Scheinwerfer wieder Richtung Himmel
ausgerichtet. Soll C jetzt auch von oben gut sichtbar sein, denke ich. Die
Menschen bleiben noch am Platz, müssen wohl wie wir dieses
60-Minuten-Power-Feuerwerk in den Köpfen abkühlen, sacken lassen. Es wird
geredet, gelacht, die Ess- und Trinkbuden werden belagert. Wir verabschieden
uns von der netten Frauengruppe, die weiterziehen will. „Kommt unbedingt
wieder, es gibt so viele tolle Sachen in Chemnitz und Umgebung zu entdecken“,
motivieren sie uns für ein Wiedersehen im „Unseen“.
Wir lassen uns im Gewühl treiben zwischen Techno auf dem
Marktplatz, Rave in einem kleinen Park, zwischen Elektro auf Bühnen und den
Gassen mit Straßenmusikern.
Zwischenmahlzeit, asiatisches Schnellrestaurant,
Glückskeksbotschaften: „Dein Leben wird durch Eindrücke und Bekanntschaften
bereichert“ und „Sie können Ihrem Traum begegnen“. Philipp und ich erkundigen uns nach Traum-Events oder Begegnungsmöglichkeiten
in Clubs für die Nacht. Aber die sind überfüllt. In der „Open Oper“ gerade
Ende des Swing-Konzerts, aber noch rappelvoll. Kein bekanntes Gesicht. Meine
Euphorie nimmt ab. Die Beine schwer. Zurück ins Hotel.
Rückzüge und Rückblicke
Der Alltag holt uns am Sonntag mit
Bahn-Resilienz-Roulette auf dem Rückweg ein. Verspätung fürchtend, nehme ich
einen früheren und pünktlichen Zug nach L, um dort sicher den Anschluss nach MD
zu erreichen. Im Abteil komme ich mit einem älteren Paar, das mit großen
Koffern unterwegs ist, ins Gespräch. Ob sie auch bei der Eröffnung gewesen
sind? „Klar, wir waren gestern auch dabei, das wollten wir nicht verpassen, wir
haben unsere Kreuzfahrt ab Hamburg dafür extra später terminiert. „Und: Wie
fanden Sie es?“ „Einfach toll, wir waren begeistert!“
Phillip nimmt in C den späteren, von uns ursprünglich
geplanten Zug nach L, der auch pünktlich ist. Gemeinsam und pünktlich, positiv
für die Verspätungsstatistik und meinen Bahn-Optimismus, geht es von L weiter
nach MD.
Am Montagmorgen sehe ich auf der Titelseite der
Magdeburger „Volksstimme“ ein Bild von der Bühne mit dem „Nischel“, darunter in
gleicher Größe ein Bild von der Demonstration der rechtsextremistischen Gruppierung
„Freie Sachsen“. Das ergibt ein falsches Gesamtbild.
Bad news bleiben schlechte Nachrichten, sie helfen nur bei
der Pflege von Narrativen, wie etwa: „Der Osten ist mehrheitlich
rechtsradikal.“ Hier wäre mehr Sorgfalt vonnöten gewesen. Schade.
Ich reihe meine Erfahrung mit der Stimmung in C in andere
persönliche Erlebnisse ein: Etwa meinen Besuch der Olympischen Spiele 1972 in
München und in Jahr 2000 auf der Expo in Hannover, mein Dabeisein, als R.E.M.
auf dem Magdeburger Domplatz zum 1200. Stadtjubiläum spielten, mein Miterleben
des Public-Viewing-Sommermärchens 2006, meine Reisen in die
Kulturhauptstadtregion Ruhrgebiet 2010 und zur Expo in Mailand 2015. „Und
zwischen 1972 und 2000 gab es kein wichtiges Erlebnis für dich?", würde
Philipp mich fragen, da er doch in diesem Zeitraum in Magdeburg geboren
wurde. Doch, doch, würde ich antworten, zum Beispiel, der Mauerfall 1989.
Der gehört auch in die Reihe als Beginn einer Transformation, auch in die von
C.
Chemnitz, wir sehen uns!
Video von unserem Besuch unter
Fotos von Herbert Karl von Beesten
und Philipp Schmidt
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