Freitag, 31. Januar 2025

# 083 Transformation durch Kultur - C the unseen im Januar 2025

C inside the opening – Notizen eines Magdeburgers von der Eröffnung der Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz

18. Januar 2025, mein Kollege Philipp Schmidt und ich am Hauptbahnhof Magdeburg, Gleis 7. Die Bahnhofsuhr zeigt 10.17 Uhr. Aber: Zwei, dann drei RE 13 Richtung Leipzig gestrichen. Ersatzlos. Mein Bahnoptimismus: „Statistisch gesehen sind zwei Drittel der Züge pünktlich …“ friert bei zwei Grad minus und Nebel allmählich ein. Gestrichene Züge fallen auch aus der Statistik. Logischer Schluss.

Mir fällt ein Gespräch mit einer Kollegin ein. Sie ist etwa so alt wie ich, und sie erinnerte sich an fahrende Züge. An einen Sonderzug gar. Nach Karl-Marx-Stadt im Mai 1967. Es war warm zum Pfingsttreffen der FDJ, es gab wohl noch den Optimismus des Aufbruchs, der Jugendlichkeit. Der Sonderzug bestand aus Güterwagen, trotzdem empfand man die Mitfahrt als Auszeichnung. Achtzigtausend oder neunzigtausend junge Menschen, atemlos gewissermaßen bei der Abenteuersuche. Es gab den „Oktober-Klub“ zu sehen, man sang mit, war fröhlich. „Ich war nicht mehr dort, seit Karl-Marx-Stadt wieder Chemnitz heißt“, schloss sie.

„C the unseen“ passt, denke ich. Aber kein Sonderzug nach Chemnitz, kein RE nach Leipzig, nur Nebel. Unplanmäßig sind wir in Halle, von dort mit der S-Bahn nach Leipzig, endlich den RE 6 Richtung Chemnitz erwischt. Im Vorbeifahren lerne ich mir bislang unbekannte Ortsnamen kennen: Großpösna, Otterwisch ... Reisen bildet. Ein gutes Omen: Blauer Himmel in Chemnitz, C sees the sun. Bunter Empfang. Menschen, Hinweisschilder, Alte, Junge, Programmflyer, Familien. Philipp zu seinem, ich erstmal zu meinem Hotel, Rucksack abwerfen.

Schwarzer Block? Demo vor meinem Hotel, junge Menschen aus der Antifa-Bewegung, Basswummern, Parolen gegen die Rechten. Am Telefon der Kollege: Die Braunen marschieren gerade vor seinem Hotel. Polizisten müssen sich an dem Katz-und-Maus-Spiel beteiligen. Bunter und größer: Die dritte Demo kommt mir entgegen: Alt, Jung, Familien, Lachen, Luftballons und bunte Fahnen, Kinderwagen, Lieder, Transparentaufschriften fordern Zusammenhalt.

Die Fröhlichkeit der Menschen in der Innenstadtstadt lässt die Demos vergessen. Volksfest mit Musik, auch Infostände, Bühnen, Tanz und Sport, Sanitäter, Nachmittags-Outdoor-Rave, Bier, Würstchen, Polizei, Döner, Straßenkünstler, Sportlerinnen auf Bühnen. Große Monitor-Wände, die die Eröffnungsfeier aus der Oper live übertragen. Davor geduldige Schlangen an den Bierbuden, die Menschen reden miteinander, haben wache Augen, manche lächeln. Wir behalten die gestylten Plaste-KUL-TUR-BECHER als Souvenir.

Wir sichern uns Stehplätze vor der großen Bühne. Noch fast zwei Stunden bis zur Show, die Sonne sinkt, es geht auf null Grad zu, der Platz füllt sich. Wie in sich ruhend das Karl-Marx-Monument, in C liebevoll „Nischel“ genannt, in dezentem grau-weißen-Licht, die überdimensionale Showtreppe steht ihm bis zum Hals, wie Schweiß von der Denkerstirn perlt ihm helle Taubenscheiße. Der Riesenkopf, der sich „Das Kapital“, ausdachte, wie eingefangen unter dem Halbrund des transparenten Bühnendachs. C „The Capital of Culture“. Es dämmert. Rechts und links der Bühne Batterien von Scheinwerfern, die Lichtfächer in den Dunst stanzen. Im Hintergrund dezente Elektro-Lounge-Musik. Warmhalten und die Logistik klären! Wo sind die Toiletten? Noch einen heißen Kinderpunsch, Glühwein, eine Bratwurst oder Falafel. Oder doch ein Bier? Es wird voller, enger. Mäntel und Jacken gehen auf Tuchfühlung.

„Wir müssen uns etwas einfallen lassen, uns warmhalten, vielleicht eine Aktion mit den Leuten um uns herum?“, versuche ich meinen Kollegen zum Mitmachen zu motivieren. „Es dauert noch eine halbe Stunde, bis es losgeht.“ „Du hast doch bestimmt schon eine Idee, oder?“, vermutet er. Der Ball ist wieder bei mir.  Hinter uns ist eine gut gelaunte Frauen-Clique in fast aufgekratzter und übermütiger Stimmung. Einiges habe ich von ihren Gesprächen mitbekommen, manches wegen ihrer sächsischen Aussprache nicht. Ich spreche sie an, ob sie mitmachen würden, die anderen zum gemeinsamen Aufwärmen zu bringen. „Jetzt gehts los! Jetzt gehts los!“, skandieren wir, klatschen im Takt mit. Leider steckt es andere nicht an, aber wir kommen ins Gespräch und "outen" uns als Magdeburger. "Wir wären auch gern Europas Kulturhauptstadt geworden, aber ihr habt das Rennen gemacht. Herzlichen Glückwunsch, wir wünschen euch ein schönes Jahr!" „O je, bei euch ist ja das Schreckliche passiert, schlimm.“ Die erste Reaktion. Ja, schlimm.

Es sind begeisterte Chemnitzerinnen, sie schwören auf europäische Verständigung. Ich lerne, dass zu Karl-Marx-Stadt-Zeiten die Abkürzung KMS sächsisch so vernuschelt wurde, dass „CMZ“ als vernischeltes „Chemnitz“ verstanden werden konnte, wenn man wollte. Aber die Frauen stehen zu ihrem Karl. Auch wenn seine Ideen vom Sozialismus inzwischen Patina angesetzt haben: Sie hatten etwas! Nur was daraus gemacht wurde ... Ich glaube, sie mögen ihren „Nischel“.

Wir erzählen von unseren Städten und finden Gemeinsamkeiten in Größe, Struktur, Geschichte. C und MD haben beide keinen regulären ICE-Anschluss. Das solidarisiert.

Es ist kurz vor 19 Uhr. Als Team C-MD starten wir einen zweiten Versuch: „Jetzt gehts los!“ Es steckt an, bricht aber plötzlich doch ab, denn die Hintergrundmusik stoppt, die Scheinwerfer bewegen sich, Weiß wird zu Blau, Rot, Grün und auch Farbumschläge rund um den „Nischel“. Geht’s los? Über uns laute Trompetenklänge, Laserstrahlen zeigen an, woher: Sie kommen vom Hochhaus links hinter uns und von dem hohen Gebäude rechts hinter uns. Trompetenklänge auch vor uns vom Dach des Plattenbaus hinter dem „Nischel“. Sie werden zum Trompeten-Laser-Zusammenspiel über unseren Köpfen. Töne und Laser wechseln sich ab, auch im Umlauf, immer schneller, immer mehr und dichter, alles überspannt uns wie ein Dach. Die Blicke nach oben, hin und her, man dreht und blickt sich an.

Break, Ruhe im Rund, die Scheinwerfer halten still. Eine Stimme. Woher? Vom „Nischel“! Bundespräsident Walter Steinmeier auf der obersten Stufe, winzig im Vergleich mit dem Steinkopf. Das Präsidentenhaupt unterhalb der Oberlippe des Monuments. Die Rede erfreulich knapp. Applaus. Abtritt. Auftritt der Moderatorin, frech, direkt: Anna Mateur, eloquent, rotzig. Passt. Januar-Klub straff durchgetaktet: Rap, Bandoneon-Tango-Orchester, Breakdance, Bosse und mehr. Mal rhythmisch, dann poppig, auch sentimental, vorsichtiges Mitwiegen der Menschen. Lightshow. Visualisierungen auf den Show-Stufen, Scheinwerfer rotieren, zucken, zeichnen Lichtfiguren in die Nacht. Das Monument in den verschiedensten Lichtstimmungen. War das gerade nicht der Kopf von Otto von Guericke anstatt Marxens Kopf? Kann nicht sein, „unseen Otto“! DJ Paul Kalkbrenner mit einem kurzen Set und einem kurzen Tschüss. Kommt noch was? Nein, kein Finale wie üblich, keine Abschiedsworte von Anna Mateur. Es ist ja
der Anfang für ein ganzes Jahr. Macht Sinn.

Nun wie vorher wieder die gediegene Lounge-Musik, der Marx-Kopf wieder in stabilen Grautönen, die Scheinwerfer wieder Richtung Himmel ausgerichtet. Soll C jetzt auch von oben gut sichtbar sein, denke ich. Die Menschen bleiben noch am Platz, müssen wohl wie wir dieses 60-Minuten-Power-Feuerwerk in den Köpfen abkühlen, sacken lassen. Es wird geredet, gelacht, die Ess- und Trinkbuden werden belagert. Wir verabschieden uns von der netten Frauengruppe, die weiterziehen will. „Kommt unbedingt wieder, es gibt so viele tolle Sachen in Chemnitz und Umgebung zu entdecken“, motivieren sie uns für ein Wiedersehen im „Unseen“.

Wir lassen uns im Gewühl treiben zwischen Techno auf dem Marktplatz, Rave in einem kleinen Park, zwischen Elektro auf Bühnen und den Gassen mit Straßenmusikern.

Zwischenmahlzeit, asiatisches Schnellrestaurant, Glückskeksbotschaften: „Dein Leben wird durch Eindrücke und Bekanntschaften bereichert“ und „Sie können Ihrem Traum begegnen“. Philipp und ich erkundigen uns nach Traum-Events oder Begegnungsmöglichkeiten in Clubs für die Nacht. Aber die sind überfüllt. In der „Open Oper“ gerade Ende des Swing-Konzerts, aber noch rappelvoll. Kein bekanntes Gesicht. Meine Euphorie nimmt ab. Die Beine schwer. Zurück ins Hotel.

Rückzüge und Rückblicke

Der Alltag holt uns am Sonntag mit Bahn-Resilienz-Roulette auf dem Rückweg ein. Verspätung fürchtend, nehme ich einen früheren und pünktlichen Zug nach L, um dort sicher den Anschluss nach MD zu erreichen. Im Abteil komme ich mit einem älteren Paar, das mit großen Koffern unterwegs ist, ins Gespräch. Ob sie auch bei der Eröffnung gewesen sind? „Klar, wir waren gestern auch dabei, das wollten wir nicht verpassen, wir haben unsere Kreuzfahrt ab Hamburg dafür extra später terminiert. „Und: Wie fanden Sie es?“ „Einfach toll, wir waren begeistert!“

Phillip nimmt in C den späteren, von uns ursprünglich geplanten Zug nach L, der auch pünktlich ist. Gemeinsam und pünktlich, positiv für die Verspätungsstatistik und meinen Bahn-Optimismus, geht es von L weiter nach MD.

Am Montagmorgen sehe ich auf der Titelseite der Magdeburger „Volksstimme“ ein Bild von der Bühne mit dem „Nischel“, darunter in gleicher Größe ein Bild von der Demonstration der rechtsextremistischen Gruppierung „Freie Sachsen“. Das ergibt ein falsches Gesamtbild.

Bad news bleiben schlechte Nachrichten, sie helfen nur bei der Pflege von Narrativen, wie etwa: „Der Osten ist mehrheitlich rechtsradikal.“ Hier wäre mehr Sorgfalt vonnöten gewesen. Schade.

Ich reihe meine Erfahrung mit der Stimmung in C in andere persönliche Erlebnisse ein: Etwa meinen Besuch der Olympischen Spiele 1972 in München und in Jahr 2000 auf der Expo in Hannover, mein Dabeisein, als R.E.M. auf dem Magdeburger Domplatz zum 1200. Stadtjubiläum spielten, mein Miterleben des Public-Viewing-Sommermärchens 2006, meine Reisen in die Kulturhauptstadtregion Ruhrgebiet 2010 und zur Expo in Mailand 2015. „Und zwischen 1972 und 2000 gab es kein wichtiges Erlebnis für dich?", würde Philipp mich fragen, da er doch in diesem Zeitraum in Magdeburg geboren wurde. Doch, doch, würde ich antworten, zum Beispiel, der Mauerfall 1989. Der gehört auch in die Reihe als Beginn einer Transformation, auch in die von C.

Chemnitz, wir sehen uns!

Video von unserem Besuch unter

https://youtu.be/T32dD2ZEw9k

 

Fotos von Herbert Karl von Beesten und Philipp Schmidt

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