Samstag, 29. Juli 2023

# 019 Im Juli 2023 nachgeschaut, gezeigt und erwischt … aber „inteln“ wir nicht alle?

 

19 Im Juli 2023 nachgeschaut, gezeigt und erwischt … aber „inteln“ wir nicht alle?

Beim Start zu einer Bördetour mit einem Freund hatte ich Anfang Juli die Gelegenheit, und zwar von der Wanzleber Chaussee aus, die aktuelle Lage auf dem Intel-Areal zu erkunden. Was mir gleich ins Auge fiel, das war ein neues, großes Verbotsschild: „Betreten der Baustelle verboten! Filmen und Fotografieren verboten! – Ländlicher Verkehr frei! – Landeshauptstadt Magdeburg“. Das alte Flachsilo, gleich rechts hinter der Einfahrt in das Intel-Gelände, wurde von zwei, mit großen Presslufthämmern bestückten Baggern angegangen, in Einzelteile zerlegt und entsorgt.

Ein Teil des Feldes war „schwarzgezogen“ und auf einem anderen Teil gedieh prächtig Zwischenfrucht. Ich hatte aus landwirtschaftlich gut unterrichteten Kreisen gehört, dass man den Acker nicht einfach so liegen lassen könne, weil sich dort sonst unkontrolliert Flora und Fauna entwickelten und sich möglicherweise wieder Feldhamster-Populationen heimisch fühlen könnten. Die hatte man doch mit vieler Mühe vor Kameras und mit Moderation der Magdeburger Wirtschaftsbeigeordneten ausgesiedelt.

Dazu passte auch der Hinweis in der „Volksstimme“ vom 17. Juli 2023 zu Änderungen von bisherigen Fahrradtour-Vorschlägen: 

„Im Süden Magdeburgs baut Intel eine Computer-Chip-Fabrik. (…). Teile der Strecke auf den Feldwegen zwischen der Baumschulensiedlung und Ottersleben sind aber inzwischen gesperrt. Diese Route hat also in Teilen eher historischen Wert.“  So schnell wird auch eine Radtour „Geschichte“.

Show, don‘t tell! Mitte Juli 2023

Sam Gurwitt, amerikanischer Journalist und Schriftsteller, ist über diesen Blog hier „gestolpert“. Er wollte mehr Hintergrundwissen dazu und Magdeburg und Magdeburger kennenlernen. So trafen wir uns an Ort und Stelle.

Was sollte ich ihm erzählen? Ich entschied mich fürs Zeigen. Wir waren auf Bikes unterwegs, da war ein ausführlicher Exkurs über Magdeburg und das Deutsche nicht möglich und auch nicht notwendig, da Sam, so um die 30 Jahre jung, schon seit einiger Zeit in Leipzig seine Fahrradrunden dreht. Ich platzierte gleich meinen autobiografischen Hinweis, dass ich gebürtig aus der Fahrradstadt Münster komme. Unsere Etappen sahen dann so aus:

„Il Capitello Espressobar“: Erstmal Tee und Cappuccino an der Ecke Domplatz/Kreuzgangstraße einnehmen und schauen, wer in Nachbarschaft des Hundertwasser-Hauses und des Landesparlaments aus Politik und Kultur just dort verweilt. Von da hatten wir den Rundumblick auf über tausend Jahre Architekturgeschichte. Dort schmiedeten wir die Agenda des Tages und ich bedachte die ersten Antworten auf Sams Fragen zu meinem Blog, wie zum Beispiel: Wie soll er die monatlich von mir zitierten Schlagzeilen aus der „Volksstimme“ verstehen, die inhaltlich scheinbar nichts mit Intel zu tun haben? Wir kreierten gemeinsam das Verb „inteln“ als Synonym dafür, wenn jemand einen in die Zeit passenden, vermeintlichen Grund vorschiebt – in diesem Fall die „Intel-Ansiedlung“ – um in seinem Sinne für eine Sache zu argumentieren, die eigentlich nichts, oder nur sehr wenig – mit dem vorgeschobenen Grund zu tun hat. So könnte nicht nur in diesem Fall „inteln“ zu einem treffenden Neologismus für solche Vorgänge werden.

Elbtreppe am Domfelsen: Blick auf die Elbe, ein Treffpunkt junger Menschen aus vielen Nationen. Der Niedrigwasserpegel bei ca. 60 Zentimeter, so waren wir gleich bei der Wasserproblematik und meinem Blogbeitrag vom März 2023: „Die zweite Meinung in einem Zuge“, ab Seite 10. Demnach soll – etwas vereinfacht ausgedrückt – selbst bei diesem niedrigen Wasserstand nach Expertenansicht das Wasserabzapfen für Intel aus dem Umfeld der Elbe nicht kritisch sein.

Der jemals gemessene Maximalpegel war im Jahr 2013 bei 753 Zentimetern – und ließ mich damals endgültig Magdeburger werden. Wie sich da der Fluss gefühlt haben muss, zeige ich Sam live mit meiner Performance „Ich, der Fluss“ („… die Ufer brechend, nicht mehr innehalten, nicht mehr aushalten können, die drückende Flut …“), die ich auch schon als „Me, the river“ bei Marc Kelly Smith, dem Godfather of Poetry Slam, in Chicago präsentiert habe.


Am Hassel: Am späten Donnerstagvormittag zeigt der Hasselbachplatz trotz der Ferien- und Urlaubszeit sein betriebsames Tagesgeschäft. Am Knotenpunkt für Busse, Bahnen und Autos –Fahrräder sind hier in der Minderheit – sind die verschiedensten Menschen emsig unterwegs. Zum Abend hin wechselt das Publikum fast komplett, nachts wird der Hassel zur Kneipen-, Restaurant- und Barmeile. Um Sam die Vielfalt zu zeigen, beginne ich, begleitet von Funky-Music aus meiner Bluetooth-Box, meine „Check-den-Hassel“-Performance („… Späti, Shisha, Delikata … Sushi, Tipco und Sitara …“ usw.), breche nach zwei Strophen ab, weil einige auf den Bänken rumhängende Männer und Frauen deutlich ihren Unmut zeigen: Wir sollten nicht abends wieder kommen, da könne man sich nicht mehr hertrauen, weil dann andere gefährliche Gestalten, gemeint sind wohl Menschen mit offensichtlichem Migrationshintergrund, alles unsicher machen würden. Mein Einwand, dass ich selbst sehr oft am Hassel bin und diese Erfahrungen nicht teile, hilft nichts. So zeigt sich live eine wenig schöne Facette der Magdeburger Willkommenskultur. Vielleicht wäre mein Text über die „Nachtscheißer am Hassel“ besser angekommen. Aber dazu fehlte mir dann der Mut, und Sam wird es sich auf YouTube https://youtu.be/VtmHHWjjJCc ansehen müssen.

Erich Weinert in Buckau: Wir radeln am Palais am Fürstenwall vorbei, heute Staatskanzlei und Amtssitz des Ministerpräsidenten. Bis 1989 „Haus der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft“, seit 1953 namentlich auch „Erich-Weinert-Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“. Im ehemaligen Arbeiter- und Industriestadtteil Buckau, im Hinterhof des jetzigen Literaturhauses und Geburtshauses des Schriftstellers und Kommunisten, Lyrikers und Politikers, steht sein Denkmal. Erich Weinert ist ein Symbol für die sozialistische Vergangenheit, für die Arbeiterklasse und zugleich für einen Teil der offiziellen DDR-Kulturpolitik. Das Denkmal stand früher an einem exponierten Ort in der Stadt. Dieses Für und Wider wird auch in Weinerts Gedicht „Vernunft“ deutlich, das ich für Sam im Schatten der Weinert-Statue rezitiere.


„Vernunft“

aus „Rhythmische Gespräche“ von Erich Weinert

aus „DIE KUGEL – ZEITSCHRIFT FÜE NEUE KUNST UND DICHTUNG“ 1920, Seite 10 - Magdeburg

Wohin ich mich auch wende,

immer fühl ich deinen sorglichen Tantenblick,

Begleiterin Vernunft! 

 

Aller Bewegung

schreibst du die Grenzen vor;

unendlichen Flug

biegst du zurück ins Endliche;

dem aufflügelnden Geist

legst du Fangschlingen.

Alles Ewige

zerschneidest du sorglich in Zeit,

alles Unendliche

in Räumlichkeit

Dem freien Gedanken schleuderst du,

wenn er über den Schlünden edel schwebt,

deines Neides sichere Pfeile nach.

 

Die Gottheit hat dich bestellt

zur Ordnerin

Du hast Maß gelegt an alle Dinge.

Du zerstachst der Ewigkeit

die stürmende Ferse

Feindin des Maßlosen!


SKET – Heavy Spurensuche:


Vorbei an ehemaligen Industriegebäuden, nun in schicke Eigentumswohnungen und Lofts transformiert, fahren wir durch ein inoffizielles, rückwärtiges Tor auf das alte SKET-Gelände in Buckau, „Schwermaschinen-Kombinat-Ernst-Thälmann“. Reste von verfallenen Fabrikhallen, Industriebrachen und Schuttberge, hier und da vereinzelte sanierte und genutzte Industriegebäude, weite freigeräumte Flächen als Bauerwartungsland. Wir streifen alleine durchs Gelände und ahnen vielleicht, wie hier 140 Jahre lang bis zur Wiedervereinigung bis zu 30.000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf einer Fläche von ca. 100 Hektar ihre meist körperlich schwere Arbeit verrichtet haben. Mit körperlichem Einsatz klaube ich ein großes, zerklüftetes Stück Eisenschlacke vom Boden, das mit viel Fantasie Ähnlichkeit mit einem gondelartigen, surrealen Boot haben könnte. Oder doch eher ein Flugzeugträger? Das Zeugnis der Buckauer Vergangenheit fixiere ich mit Spanngummibändern auf meinem Gepäckträger, und es begleitet uns durch den weiteren Tag.

„Schau mal, da oben“, macht mich Sam aufmerksam darauf, dass wir beobachtet werden. Von einem der alten Gebäude schaut uns böse ein Eisen-Mann an. Will er in Ruhe gelassen werden?

Wir radeln weiter zum Technikmuseum, mit einem kurzen Blick auf die maschinellen Hinterlassenschaften des ehemaligen Magdeburger Schwermaschinenbaus. Bis in den Hinterhof, wo die große Ernst-Thälmann-Statue etwas versteckt steht, gelangen wir nicht, aber zum benachbarten ehemaligen, großen, jetzt sanierten SKET-Verwaltungsgebäude. Dort arbeiteten früher Hunderte Ingenieure in den Konstruktionsabteilungen. In der Eingangshalle können wir auf einem umlaufenden Wandfries lesen, welche großen und kleinen, zivilen und militärischen Produkte von Buckau aus in die Welt gingen. Heute ist hier der Hauptsitz der regiocom SE, eines IT- und Digitalisierungsunternehmens mit 6.000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen an 25 europäischen Standorten. Magdeburg „kann“ also Transformation, und große Firmen sind nichts Neues.


Stadtfeld: Bürger und Handwerker-Szene: Kontrastprogramm. Über die „Fahrradautobahn“, also auf den gut ausgebauten Fahrradwegen des Grüngürtels entlang der alten Festungsanlagen, wie dem Glacis, transformieren wir uns in den Stadtteil „Stadtfeld“. Um 1900, zu Kaiser Wilhelms Zeiten erbaut, findet man hier noch viele der nicht im Krieg zerstörten großen Bürgerhäuser. Hier lebt heute der so genannte akademische Mittelstand, junge Familien mit Kindern, auch zum Teil die alternative Szene. Einen kleinen Überblick über diese Klientel erhalten wir am Eingang des großen Bioladens mit angeschlossenem Restaurant. In einer Auslage finden wir Flyer zu Yogakursen, Heilpraktikern und Naturheilkunde, Visitenkarten von Psychologinnen und Spezialtherapeuten, zu Selbsthilfegruppen, über alternative Medizin, vegane Ernährung etc.

Nach unserer Mittagspause will ich Sam im Antik- und Raritätenladen um die Ecke kurz den Temponauten Kalle vorstellen (siehe dazu den Blog-Beitrag vom Januar 2023, ab Seite 9), der aber zu meiner Verwunderung wegen eines Gespräches mit einem Kunden diesmal überhaupt keine Zeit für uns hat.

Anschließend interviewen wir einen bodenständigen Tischlermeister, der im Stadtfeld eine handwerkliche Produktion betreibt (siehe auch „123 Jahre handwerkliche Transformation“, im Juli-2023-Blog, wo auch das Thema Intel kurz aufblitzt). Eine spontane Umfrage unter Stadtfelder Passanten „Was halten Sie von der Intel-Ansiedlung“, schließt sich an, danach verabschiedet sich Sam, der mit dem Fahrrad Richtung Bahnhof muss. Weiterreise für ihn.

Allein gelassen, war mein Drive passé, die Luft raus, und ich fiel in eine melancholische Sommerstimmung (siehe auch „Intel-Umfrage kippt in die Sommerpausenstimmung“ im Juli-2023-Blog). Dabei hätte meine Da-Da-Performance „Das Klagelied einer einsamen Straßenbahnschiene“, die am unscheinbaren Olvenstedter Platz im Stadtfeld spielt, dort so gut gepasst, gerade im Gegensatz zu den Nachtschweißern am prominenten Hasselbachplatz.  

Jetzt habe ich auch mal etwas „geintelt“, um so meine Performances hervorzuheben. Ich lerne, dank Intel, täglich dazu.

 

 

 

 

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