Samstag, 29. Juli 2023

# 020 - Im Juli 2023 ein Blick auf 123 Jahre handwerkliche Transformation - ein Blick von außen

 Von der uralten gusseisernen Presse zum modernen CNC-Holz-Bearbeitungszentrum

-     Handwerkliche Produktion und Tradition nebeneinander im Stadtfeld

Weiter unterwegs mit Sam Gurwitt – einem jungen, zurzeit in Leipzig lebenden amerikanischen Journalisten, der zum Thema Intel-Ansiedlung auf Recherchereise ist – im Stadtfeld unterwegs. Sam möchte ein noch genaueres Gespür dafür bekommen, wie die Magdeburger „ticken“. Da habe ich gleich eine gute Gelegenheit für ihn. Wir werden von Gerlinde, Frank und Tim Heine von der Möbel- und Bautischlerei Heine im Meisterbüro – oder besser im „Show room“ – in der Arndtstr. 25 freundlich empfangen.

Herbert Beesten für „Mein Stadtfeld“: Ich habe den Eindruck, dass das, was Sie hier im Stadtfeld machen, nicht so viele machen.

Frank H.: Ja, wir sind damit hier fast allein. Es haben viele Handwerker aufgegeben, so sind insgesamt nur noch wenige da, und wir sind hier in Stadtfeld-Ost, glaube ich, die letzten, die auch noch produzieren. Viele Tischlereibetriebe machen heutzutage nur noch Montagen.

Wie schaffen Sie das, es ist ja bestimmt nicht einfach?

Frank H.: Wir haben rechtzeitig investiert, auch in moderne CNC-Maschinen und produzieren hier im Hinterhaus in eigenen Räumen, die unsere Altvorderen und wir bereits seit 1900, also in der 5. Generation, als Tischlerei nutzen. So können wir noch einigermaßen mit dem Handel konkurrieren, außer, wenn z.B. die Tischlereien der Justizvollzugsanstalten oder der Behindertenwerkstätten – wie beim neuen Justizzentrum an der Halberstädter Straße – als Wettbewerber auftreten. Die können wegen des Lohngefüges natürlich günstiger anbieten.

Wo ich herkomme, da sagt man Schreiner, nicht Tischler. Was ist der Unterschied?

Gerlinde H.: Ich habe gleich an Ihrer Aussprache gehört, dass Sie von woanders kommen. Aber da gibt es keinen Unterschied. Wir sagen hier ja auch Fleischer und Sie dagegen vielleicht …

… Metzger! Und unsere Frikadelle ist bei Ihnen …

Gerlinde H.: … die Bulette, genau!

Also alles sind Meatballs, stellt Sam fest. Anderorts auch Klops oder Fleischpflanzl, ergänze ich. Aber wir kommen vom Thema ab.

Frank H.: Ich weiß auch nicht, von wo sich das Wort „Schreiner“ begründet, bei Tischler ist es ja klar, weil er Tische baut.

Gerlinde H.: Das kommt wahrscheinlich von „Schrein“, also von Schrank.

Schrein könnte auch auf Sarg hindeuten, die haben die Schreiner früher auch hergestellt, auf dem Dorf zumindest. Bauen Sie auch Särge, also Totenschreine?

Frank H.: Nein, Erdmöbel haben wir noch nie gemacht.

Auf Ihrer Homepage habe ich gesehen, dass die Holzverkleidungen, außen am neuen Hotel „Das Elb“ im Stadtpark, aus Ihrem Hause kommen. Das sieht ja architektonisch beeindruckend aus, wie ein auf Stelzen stehendes Kreuzfahrtschiff.

Tim H.: Ja, und auch im Innenausbau haben wir einiges gemacht.

Da fällt mir mein Projekt „Kulturfrachtschiff“ ein, das ich zur Kulturhauptstadtbewerbung als Bühne für die freie Kulturszene auf dem Domfelsen vorgeschlagen hatte. Das Thema Kulturhauptstadt ist ja leider passé. Aber vielleicht wird das Kulturfrachtschiff früher oder später mit Hilfe eines Sponsors doch noch Realität. Aber da braucht man jemanden, der so etwas auch bauen kann. Trauen Sie sich so etwas zu?

Frank H.: Wie soll das denn aussehen?

„Rein zufällig“ habe ich hier auf meinem Handy einige Zeichnungen, Bilder, sogar ein mit Virtual Reality animiertes Video und in meinem Atelier auch ein reales Modell aus Holz im Maßstab 1:100. Sie können sich das auch alles unter www.kulturfrachtschiff.eu genau ansehen.

Tim H.: Sehr interessant und visionär, das wäre wirklich ein tolles Projekt und eine Herausforderung. Aber Schiffe bauen wir nicht.

Es hat nur die futuristische Form eines Schiffes, genau besehen, ist es ein Bühnenraum, der auf kleinen Stelzen auf dem Domfelsen stehen soll.

Frank H.: Ach so. Dann braucht man einen Architekten, der das plant, dann trauen wir uns das zu und hätten Spaß daran: Unten ein Stahlrahmen, den Baukörper als Holzständerwerk und lackierte Holzflächen außen. Und bei drohendem Hochwasser kann man es, wie die alten Rayon-Häuser hier im Stadtfeld, abbauen, danach wieder aufbauen. Aber wenn das Kulturfrachtschiff circa 50 Meter lang werden soll, kostet das einiges, aber dafür bringen wir gerne als Sponsoren-Schild „Intel“ an.

Kommen wir gedanklich zurück in die Arndtstraße. Auch wenn hier offiziell baurechtliches Gewerbe zugelassen ist, ist das doch gefühlt eher ein Wohngebiet. Gibt es dadurch Probleme?

Gerlinde H.: Nein, eigentlich nicht. Sicher gibt es ab und zu Maschinengeräusche, aber die Nachbarschaft kennt und akzeptiert das, immerhin ist unsere Tischlerei seit 123 Jahren hier ansässig und der Schallschutz moderner Isolierfenster hilft auch. Wir betreiben schon seit 30 Jahren eine nachhaltige Heizungsanlage für die Werkstatt und das große Wohnhaus – also lange vor der aktuellen Energiediskussion – preis- und umweltgünstig mit unseren Holzspänen. Der Schornsteinfeger und das Umweltamt überwachen regelmäßig alle Anlagen und Emissionen.

Für welche Kundschaft arbeiten Sie?

Frank H.: In der letzten Zeit öfter überregional für Arztpraxen und medizinische Einrichtungen. In diese Branche sind wir durch Empfehlungen gut eingeführt. Gerade statten wir eine Radiologie Praxis in Nürnberg aus.

Und hier in Magdeburg selbst?, will Sam wissen.

Gerlinde H.: Ja auch, vor allem ältere und langjährige Kunden hier aus dem Stadtfeld können wir als Stammkunden bezeichnen, weil wir noch Sachen in Ordnung bringen. (Sie weist auf einige Gegenstände am Eingang.) Da, sehen Sie, dieser Schubkasten und Nähschrank warten auf eine Reparatur, typisch sind die beiden alten Stühle, die aus dem Leim gegangen sind. Das macht sonst fast keiner mehr.

Wir arbeiten auch alte Möbel auf, wie z.B. diesen alten wuchtigen Schreibtisch, an dem wir hier sitzen.

Was erwarten Sie von der Intel-Ansiedlung?, will Sam weiterwissen.

Frank H.: Wir sind auch Wohnungsvermieter und wissen, dass die Nachfrage nach günstigen Wohnungen gerade hier im gewachsenen Stadtfeld mit dem guten Wohnumfeld zunehmen wird. Wir sind durch unsere über 120-jährigen Firmengeschichte auf Veränderungen und neue Einflüsse gleichsam „genetisch“ vorbereitet. Die Gründerzeit und die Weltwirtschaftskrise wurden durchlebt, wir konnten auch in DDR-Zeiten privatwirtschaftlich bleiben. Dann die Wende, da hat sich auch technisch viel verändert. Wir haben schon früher mit Materialengpässen und einer schwierigen Stromversorgung zu kämpfen gehabt.

Tim H.: Schöne Beispiele dafür sind unsere über 123 Jahre alte gusseiserne Holzpresse, die Furniere aufbringt, und unser neustes CNC-Holzbearbeitungszentrum zum automatischen Bohren, Fräsen und Sägen in einem Arbeitsgang, das zeige ich Ihnen, wenn Sie möchten.

Gern.

So machen wir uns auf den Weg. Es geht vorbei an den Meisterbriefen der Vorbesitzer Arthur und Wolfgang und auch des heutigen Meisters Frank Heine, an einem Schwarz-Weiß-Bild von 1934, auf dem genau diese drei – Frank ist noch ein kleiner Junge – zu sehen sind, in das Werkstattgebäude im Hinterhof und erhalten kurze Vorführungen der beiden Arbeitsgeräte, die unterschiedlicher nicht sein können.


Hier arbeiten neben Tischlergesellen auch zwei Auszubildende. Einer davon macht gerade seine Prüfung und wird übernommen. Ein neuer Lehrling beginnt im September seine Ausbildung. Er hat vorher ein Praktikum im Betrieb gemacht, damit er ein realistisches Bild vom Tischlerberuf bekommt und durchhält. „Nur: ‚Ich will irgendwas mit Holz machen, reicht bei uns als Berufsmotivation nicht aus‘“, so Tischlermeister Frank Heine.

Wir bedanken und verabschieden uns. Ich glaube, Sam hat einen authentischen und überzeugenden Blick ins deutsche Handwerk erhalten.

Weitere Infos zum Tischler-Betrieb: siehe auch www.tischlerei-heine-magdeburg.de

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