Dienstag, 28. Februar 2023

# 007 Chip-Visite im Februar 2023

Ein sonniger Vormittag am 22. Februar 2023, Frühlingsahnung bei weißblau bayrischem Himmel und fast zweistelligen Temperaturen. Die Winterjacke über dem Arm, bin ich zu Fuß unterwegs von meinem Quartier in München-Obergiesing. Zwei Kilometer in südliche Richtung zum Campeon, dem Sitz der Intel Deutschland GmbH. Mein „Basislager“ für meine Erkundungen habe ich in der Pennstraße aufgeschlagen. Nein, nicht vom PEN, dem Schriftstellerverband, auch nicht von „Pennen“ abgeleitet – das in Erwägung des Schlafstadtcharakters hier am Rand von München vielleicht naheliegen würde. „Penn“ steht für den US-Bundesstaat Pennsylvania. Da ist eine Cincinnatistraße, auf Schildern heißt es weiter „Rolllstuhl-to-rent“ ja, mit drei „L“ und „Munich Service Taxi“ und der Wegweiser zu einem „Micky-Maus…“, sorry, „Mickey-Mouse-Spielplatz“.

Geschichten am Wege

Ich muss an meine Vorfahren denken, von denen mir mein Vater seit meiner Kindheit immer wieder erzählt hat: Hermann-Josef und Johann-Gerhard Beesten, nach Kirchenbuch 1819 und 1821 in Rheine geboren, wanderten nach der Familienchronik Mitte des 19. Jahrhunderts in die USA, Cincinnati, aus, gründeten dort eine Klavierfabrik. Mein Vater hieß auch Hermann und wäre nach seiner US-Kriegsgefangenschaft gerne wieder dorthin zurückgekehrt. Er war Lokführer und aus seiner Sicht hatten Lokführer dort ein viel höheres Ansehen als in Deutschland. Sein Amerikatraum, aber die Kontaktaufnahme zu den alten Verwandten hat nie geklappt. So blieb Amerika für ihn lange Sehnsuchtsort. „The sky is the limit“ war sein Lieblingsspruch, aber meine Mutter wollte hierbleiben, sie musste immer die heimatliche Kirchturmspitze sehen können. Bye, bye, Cincinnati.

Ich folge der Weg-Empfehlung meines Smartphones quer durch ein Waldstück. Auf halber Strecke liegt ein meterdicker, entwurzelter Eichenstamm quer über den Weg. Der passt eigentlich nicht zum umgebenden Mischwald mit Stämmen, deren Durchmesser 25 bis 30 Zentimeter betragen. Ist der Wald früher vielleicht geschlagen worden, bis auf ein paar alte Bäume, wie den hier, der irgendwann von einem Sturm gefällt worden ist? Der Stamm muss hier schon länger liegen. Die Rinde fehlt hier und da, verwittert oder Kinder könnten die Eiche zum Balancieren benutzt haben.

Ich missachte den Schlagbaum an der Grenze zur Münchener Nachbar- und Speckgürtelgemeinde Unterbiberg. Mir fällt „Bördespeck“ ein, aber das ist ja geräucherter Käse, ohne Löcher, von fester Konsistenz, schnittfest und intensiv im Geschmack. Speck für Vegetarier. Ursprünglich ein klassisches Ostprodukt, heute schmuck etikettiert mit der europaweit geschützten und exklusiven Herkunftsbezeichnung, „aus sachsen-anhaltischen Landen“. Die Magdeburger Intel Ansiedlung brächte ganz andere „Speckseiten“.

Ich will versuchen, mich in die gleichsam innovative Power-Atmosphäre einzufühlen, die ich hier erwarte. Werde ich gleich die kreative High-Tech-Aura spüren, die es in den Wirkungsstätten weltweit agierender amerikanischer Technologiekonzerne auch heute noch geben soll?

Was wird sich davon auf mich übertragen, auf mein Denken und Fühlen? Was kann ich auf die Magdeburger Verhältnisse übertragen, in den Magdeburger Bördespeckgürtel.

Aber noch bin ich in München, Unterbiberg, Campeon:

Erkundungen der Dimensionen

Ich verlasse das Wäldchen, quere eine Unterführung, S-Bahnstrecke München-Holzkirchen. Da öffnet sich das Gelände. Vor mir eine Allee, links ein großer Acker, halb rechts tut sich eine große Rasenfläche auf, mit einzelnen laublosen Bäumen und dem blassen, grünlich-gelben Gras einer Magerwiese. Einige hundert Meter weiter ein ausladend breiter Gebäudekomplex, modern, Bauhausstil. Hellbraune und beige Frontelemente lockern die meist 4-stöckigen Gebäude auf.

Ich versuche, die Relation der Größenordnung zur geplanten Anlage in Magdeburg zu erfassen.

Das Campeon wurde vor ca. 20 Jahren als CAMPus für die Entwicklungsabteilung des Chip-Herstellers InfinEON, der ehemaligen Siemens-Halbleitersparte, errichtet. Intel übernahm 2010 Teile von Infineon, ist hier heute mit Entwicklung, Logistik und Verwaltung vertreten und zugleich ist es der Sitz der Intel Deutschland GmbH. Das gesamte Areal teilen sich heute Intel und Infineon. Es ist meines Wissens kein ausschließlicher Produktionsstandort, wie er in Magdeburg geplant ist. Ich stehe am

 

Eingang des weitläufigen, 20 Hektar großen, bebauten Kernareals, kann die zweihunderttausend Quadratmeter gerade in etwa überblicken, ein Schild erklärt mir den zweiteiligen Gebäudekomplex: Links Intel, rechts Infineon. Von künstlichen Wasserflächen eingefasst, hat es etwas von einem Wasserschloss. Am dunstigen Horizont, weit entfernt, undeutlich, eine Bergkette. Das müssen die Alpen sein. Außerhalb des Wasserringes umfasst ein schlichter Park mit einzelnen jungen kahlen Bäumen und weitläufigen, ebenen Rasenflächen das Kerngelände. Nur ein Lärmschutzwall erhebt sich im Osten gegen die A8. Entlang der Wege immer wieder Stangen in Signalfarben. Dienen sie als Orientierung beim Schneeräumen oder ist es ein Abstecken für Erweiterungsbauten? Alles in allem sind das hier mit dem Park ca. 80 Hektar. In Magdeburg ist von 600 Hektar die Rede, inklusive Zusatzflächen für Zulieferer. Siebeneinhalb Mal größer als das Campeon.


In FCM-Einheiten gerechnet: Das Spielfeld der MDCC-Arena wäre hier 112-mal, in dem geplanten Börde-Areal 840-mal unterzubringen, oder anders: Die Fußballfelder würden, von der MDCC-Arena aus in südlicher Richtung der Breite nach aneinandergereiht, eine 105-Meter breite Rasenschneise bis fast exakt zum Stadion des HF… oh, fast ein Foul … dann lieber fair die Spielfelder in westliche Richtung der Länge nach anordnen, um so eine 68 Meter breite 
Rasenschneise bis zum Eintracht-Stadion der Partnerstadt Braunschweig zu bewerkstelligen.

Im Innern auf Streife

Soll ich nur vom Spielfeldrand zusehen? Ich will nicht nur mit Zahlen und Wörtern spielen, sondern erkunde das Campeon-Areal.

Ein öffentlicher Raum: Kein Zaun, kein Pförtner, keine Fragen. Die Zugänge in die Bürogebäude erfordern jedoch codierte Transponder. Ich übe mich in Zurückhaltung, fotografiere nicht, lasse mich zwischen den beiden langen Gebäudestrecken treiben, tendiere zur linken Intel-Seite. Dort finde ich Zugang in einen offenen Bereich mit Cafés, Bistros, Tabak- und Zeitschriftenläden, Schnellrestaurants, da ein Laden für Gadgets und sogar Staubsauger werden angeboten. Ob hier Menschen auf dem Gelände wohnen, die einen Haushalt haben? Es ist mittlerweile später Vormittag, ich mische mich unter die Leute, jetzt ein zweites Frühstück, ein Cafe Americano und ein Croissant. Ich streife weiter durch die öffentlichen Räumlichkeiten. Ein Friseursalon, ein Leseraum mit einem Regal zum Tauschen ausgemusterter Bücher. Auf den ersten Blick ein ähnliches Sortiment, wie ich es aus anderen Städten und Dörfern kenne. Manchmal kann man da besondere Entdeckungen machen, aber heute nicht. Der Geldautomat wirkt hier antiquiert, weil fast alle mit dem Handy bezahlen. Junge Männer und Frauen und die mittlere Generation, selten Ältere, in kleinen Kaffeerunden hier und da an den Tischen, einige draußen in der Sonne an Stehtischen. Arbeitstreffen oder private Small-Talks? Es wirkt nicht gestellt, eher organisch, mal ernst, dann wird wieder gelacht, mal geschwiegen, nichts, wie man es aus vielen Hochglanz-Image-Videos der Hightech-Schmieden kennt.

Die Gewerkschaften zeigen in Aushängen Listen mit Bildern der Vertrauensleute. Dort eine unabhängige Liste mit Funktions- oder Abteilungsbezeichnungen: Business Coach, Tester Plattform, Management Personal, Logic Manager, Quality und ein Mann von der Security - der trägt auf dem Foto eine dunkle Sonnenbrille. Die Frauenquote in den Listen schwankt zwischen 20 und 50%.

Ein Lotto-Laden preist den Jackpot von 12 Millionen an, also gibt es selbst hier unerfüllte Wünsche. Anders als in den studentischen Lokalen der Maxvorstadt und in Schwabing ist hier wenig „vegetarisch“ oder „vegan“ zu lesen. Hier dominieren Leberkäse, Fleischburger und Weißwurst.

Ich suche die Rezeption von Intel, nur mal schauen, wo der Eingang ist, nicht reingehen, ich habe weder Transponder noch Termin. Kaltakquisition, oder wie in meinem Fall eine spontane Stippvisite, ist im heutigen Business undenkbar … obwohl … die Pressesprecherin unseres vormaligen Magdeburger Oberbürgermeisters arbeitet jetzt für Intel. Möglicherweise hat sie hier ihr Office? Ihre Kontaktdaten habe ich allerdings nicht, eine gute Ausrede, mich nicht zu trauen.

Wo ist denn jetzt die Intel-Rezeption? Ich suche weiter, stelle fest, dass sich hinter den vierstöckigen Frontgebäuden weitere Gebäude befinden, in ähnlichen sich wiederholenden Strukturen, die ein gewisses System haben. Die Gebäude sind ein, zwei Stockwerke niedriger, ducken sich hinter der Gebäudefront weg, sind mit Durchgängen untereinander verbunden. Keine Menschenseele zu sehen. Darf ich hier überhaupt herumstreunen? Hatten die Architekten damals den Einfall, die Gebäude hier ähnlich wie die Chip-Strukturen in der damaligen Mykro-Meter-Technologie zu designen? Nur viel größer, so dass ich wie ein winziges Bit oder Elektron umherschwirre, auf einen Impuls wartend, um einen Aus- oder Eingang ansteuern zu können, oder um weitere Bits zu treffen, um uns zu Informationsschwärmen zusammenzutun, die dann … da ist ja der Intel-Eingang, unspektakulär an der Rückseite eines Gebäudes. Irgendwie sympathisch.

Es ist Mittagszeit, und ich gehe ins „Kasino“, die große Kantine, und bin plötzlich mit Hunderten bunten Menschen zusammen, reges Treiben. Ich reihe mich ein, Selbstbedienung, und wie in der Uni-Mensa in Magdeburg, gibt es hier eine extra Cash-Kasse. Man kann als Externer bar bezahlen. Ich setze mich zwischen die vielen Menschen, esse, beobachte. Sie wirken auf mich nicht eingebildet, halten sich nicht für etwas Besseres. Gleiche unter Gleichen? Anders, als ich das manchmal in der Kantine einer Rundfunkanstalt empfinde. Oder liegen mir die Techniker und Ingenieurinnen besser als die Media-Menschen?

Ich höre neben mir Englisch, Unterhaltungen in Spanisch, oder ist es Portugiesisch?

 

Traum oder nicht Traum?

Im Rahmen meiner früheren Tätigkeiten habe ich viele Kontakte und Zugang zu großen Firmen an imposanten Firmenstandorten gehabt. In Deutschland, Dubai, den USA, China. Ich war unterwegs in Highspeed-Zügen, Flugzeugen, wurde in Luxuslimousinen chauffiert und habe in berühmten Hotels logiert. Wenn ich mich in dieser Welt bewegt habe, geriet ich oft in Euphorie, wurde als Ingenieur von dem „Technik-kann fast-alles-Virus“ und vom „Alles-ist-möglich-Bakterium“ angesteckt und bewegt. Die Kombination von genialen und statisch noch nie gesehenen, halsbrecherischen Architekturen bis hoch in den Himmel, tat das Ihre, sodass ich ernsthaft darüber nachdachte, in Amerika zu arbeiten oder einige Jahre in China zu leben. Ich wollte Teil jener Welt sein, mich dem Sog, dem Schwung hingeben, so, als wenn man im Rausch und überdreht von der geilsten Musik, ohne Anstrengungen abtanzt, wie ein ewig junger Gott.

Kehrte ich in die heimische Provinz zurück, fehlte mir manchmal doch das Große, die weite bunte Welt.

Wie ist hier mein Feeling, die Aura, der Spirit für mich, unmittelbar an Hightech-Puls, im Intel- und Infineon-Kasino? Schiebe ich eine ruhige Kugel und bleibe am Spielfeldrand, oder packt es mich wieder, wie eine Roulette-Kugel, um immer wieder hin- und her gestoßen zu werden. Mittendrin zu sein im „Immer-Schneller“, „Immer-Größer“ oder passend zur Chip-Branche im „Immer Kleiner“?

Zu pathetisch vielleicht? „Schau’n mer mal“, und „mia san mia“ heißt es hier in Bayern. Mag sein, vielleicht gibt es in Magdeburg die richtige Mischung für die anstehenden Veränderungen: Bodenständige Euphorie, gepaart mit realistischem Optimismus, und ein vorwärtsweisendes und gleichzeitig situatives Beharrungsvermögen, dazu eine gehörige Portion Pragmatismus.

Im Münchener Lokalteil der „Süddeutschen Zeitung“ fragt man sich, was für die Stadt die neuerdings angekündigten zwei großen Investitionen von je einer Milliarde Euro von Apple und Kollegen für die Stadtentwicklung bedeuten. Die Relation: Die Gesamtinvestition soll in Magdeburg 13-mal größer sein, dafür beträgt die Magdeburger Einwohnerzahl ein Sechstel der Münchener. Klar, dass bei der Relation in Magdeburg noch ganz andere Fragen dringlich sind.

Zum Runterkommen noch ein Cappuccino, ich schaue mich um, die ehemalige Magdeburger Pressesprecherin, jetzt „Public Affairs Manager, Intel Corporation“ werde ich hier zufällig nicht treffen. Aber ich werde versuchen, sie demnächst über LinkedIn zu erreichen.

Mein Rückweg führt an der noch auf dem Gelände befindlichen großen Kindertagesstätte vorbei, wo im Hof eine Kindermeute deutlich hörbar hyperaktiv herumhämmert und -sägt. Die künftige Generation KI – oder besser „generation ai“, noch handwerklich betriebsam. Auf dem Weg durch den Park zur S-Bahnstation „Fasanenpark“ trabt mir eine Joggerin entgegen, ein paar Minuten später kommt die S3 und nach 20 Minuten bin ich am Münchener Marienplatz. Ich will noch in die „Pinakothek der Moderne“, dort kann man neuerdings die KI schon im Museum betrachten.

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