Ein sonniger Vormittag am 22.
Februar 2023, Frühlingsahnung bei weißblau bayrischem Himmel und fast
zweistelligen Temperaturen. Die Winterjacke über dem Arm, bin ich zu Fuß
unterwegs von meinem Quartier in München-Obergiesing. Zwei Kilometer in südliche
Richtung zum Campeon, dem Sitz der Intel Deutschland GmbH. Mein „Basislager“
für meine Erkundungen habe ich in der Pennstraße aufgeschlagen. Nein, nicht vom
PEN, dem Schriftstellerverband, auch nicht von „Pennen“ abgeleitet – das in
Erwägung des Schlafstadtcharakters hier am Rand von München vielleicht naheliegen
würde. „Penn“ steht für den US-Bundesstaat Pennsylvania. Da ist eine
Cincinnatistraße, auf Schildern heißt es weiter „Rolllstuhl-to-rent“ ‒ ja,
mit drei „L“ ‒ und „Munich Service Taxi“ und der Wegweiser zu einem „Micky-Maus…“,
sorry, „Mickey-Mouse-Spielplatz“.
Geschichten am Wege
Ich muss an meine Vorfahren denken,
von denen mir mein Vater seit meiner Kindheit immer wieder erzählt hat: Hermann-Josef
und Johann-Gerhard Beesten, nach Kirchenbuch 1819 und 1821 in Rheine geboren,
wanderten nach der Familienchronik Mitte des 19. Jahrhunderts in die USA,
Cincinnati, aus, gründeten dort eine Klavierfabrik. Mein Vater hieß auch
Hermann und wäre nach seiner US-Kriegsgefangenschaft gerne wieder dorthin
zurückgekehrt. Er war Lokführer und aus seiner Sicht hatten Lokführer dort ein viel
höheres Ansehen als in Deutschland. Sein Amerikatraum, aber die Kontaktaufnahme
zu den alten Verwandten hat nie geklappt. So blieb Amerika für ihn lange Sehnsuchtsort.
„The sky is the limit“ war sein Lieblingsspruch, aber meine Mutter wollte hierbleiben,
sie musste immer die heimatliche Kirchturmspitze sehen können. Bye, bye, Cincinnati.
Ich folge der Weg-Empfehlung meines Smartphones quer durch ein Waldstück. Auf halber Strecke liegt ein meterdicker, entwurzelter Eichenstamm quer über den Weg. Der passt eigentlich nicht zum umgebenden Mischwald mit Stämmen, deren Durchmesser 25 bis 30 Zentimeter betragen. Ist der Wald früher vielleicht geschlagen worden, bis auf ein paar alte Bäume, wie den hier, der irgendwann von einem Sturm gefällt worden ist? Der Stamm muss hier schon länger liegen. Die Rinde fehlt hier und da, verwittert oder Kinder könnten die Eiche zum Balancieren benutzt haben.
Ich missachte den Schlagbaum an der Grenze zur Münchener Nachbar- und Speckgürtelgemeinde Unterbiberg. Mir fällt „Bördespeck“ ein, aber das ist ja geräucherter Käse, ohne Löcher, von fester Konsistenz, schnittfest und intensiv im Geschmack. Speck für Vegetarier. Ursprünglich ein klassisches Ostprodukt, heute schmuck etikettiert mit der europaweit geschützten und exklusiven Herkunftsbezeichnung, „aus sachsen-anhaltischen Landen“. Die Magdeburger Intel Ansiedlung brächte ganz andere „Speckseiten“.Ich will versuchen, mich in die gleichsam
innovative Power-Atmosphäre einzufühlen, die ich hier erwarte. Werde ich gleich
die kreative High-Tech-Aura spüren, die es in den Wirkungsstätten weltweit
agierender amerikanischer Technologiekonzerne auch heute noch geben soll?
Was wird sich davon auf mich
übertragen, auf mein Denken und Fühlen? Was kann ich auf die Magdeburger
Verhältnisse übertragen, in den Magdeburger Bördespeckgürtel.
Aber noch bin ich in München,
Unterbiberg, Campeon:
Erkundungen der Dimensionen
Das Campeon wurde vor ca. 20
Jahren als CAMPus für die Entwicklungsabteilung des Chip-Herstellers
InfinEON, der ehemaligen Siemens-Halbleitersparte, errichtet. Intel
übernahm 2010 Teile von Infineon, ist hier heute mit Entwicklung, Logistik und
Verwaltung vertreten und zugleich ist es der Sitz der Intel Deutschland GmbH. Das
gesamte Areal teilen sich heute Intel und Infineon. Es ist meines Wissens kein
ausschließlicher Produktionsstandort, wie er in Magdeburg geplant ist. Ich
stehe am
Im Innern auf Streife
Soll ich nur vom Spielfeldrand
zusehen? Ich will nicht nur mit Zahlen und Wörtern spielen, sondern erkunde das
Campeon-Areal.
Ein öffentlicher Raum: Kein Zaun,
kein Pförtner, keine Fragen. Die Zugänge in die Bürogebäude erfordern jedoch codierte
Transponder. Ich übe mich in Zurückhaltung, fotografiere nicht, lasse mich zwischen
den beiden langen Gebäudestrecken treiben, tendiere zur linken Intel-Seite. Dort
finde ich Zugang in einen offenen Bereich mit Cafés, Bistros, Tabak- und
Zeitschriftenläden, Schnellrestaurants, da ein Laden für Gadgets ‒ und
sogar Staubsauger werden angeboten. Ob hier Menschen auf dem Gelände wohnen,
die einen Haushalt haben? Es ist mittlerweile später Vormittag, ich mische mich
unter die Leute, jetzt ein zweites Frühstück, ein Cafe Americano und ein
Croissant. Ich streife weiter durch die öffentlichen Räumlichkeiten. Ein Friseursalon,
ein Leseraum mit einem Regal zum Tauschen ausgemusterter Bücher. Auf den ersten
Blick ein ähnliches Sortiment, wie ich es aus anderen Städten und Dörfern
kenne. Manchmal kann man da besondere Entdeckungen machen, aber heute nicht. Der
Geldautomat wirkt hier antiquiert, weil fast alle mit dem Handy bezahlen. Junge
Männer und Frauen und die mittlere Generation, selten Ältere, in kleinen Kaffeerunden
hier und da an den Tischen, einige draußen in der Sonne an Stehtischen. Arbeitstreffen
oder private Small-Talks? Es wirkt nicht gestellt, eher organisch, mal ernst,
dann wird wieder gelacht, mal geschwiegen, nichts, wie man es aus vielen Hochglanz-Image-Videos
der Hightech-Schmieden kennt.
Die Gewerkschaften zeigen in
Aushängen Listen mit Bildern der Vertrauensleute. Dort eine unabhängige Liste mit
Funktions- oder Abteilungsbezeichnungen: Business Coach, Tester Plattform,
Management Personal, Logic Manager, Quality und ein Mann von der Security - der
trägt auf dem Foto eine dunkle Sonnenbrille. Die Frauenquote in den Listen
schwankt zwischen 20 und 50%.
Ein Lotto-Laden preist den Jackpot
von 12 Millionen an, also gibt es selbst hier unerfüllte Wünsche. Anders als in
den studentischen Lokalen der Maxvorstadt und in Schwabing ist hier wenig „vegetarisch“
oder „vegan“ zu lesen. Hier dominieren Leberkäse, Fleischburger und Weißwurst.
Ich suche die Rezeption von
Intel, nur mal schauen, wo der Eingang ist, nicht reingehen, ich habe weder
Transponder noch Termin. Kaltakquisition, oder wie in meinem Fall eine spontane
Stippvisite, ist im heutigen Business undenkbar … obwohl … die Pressesprecherin
unseres vormaligen Magdeburger Oberbürgermeisters arbeitet jetzt für Intel.
Möglicherweise hat sie hier ihr Office? Ihre Kontaktdaten habe ich allerdings nicht,
eine gute Ausrede, mich nicht zu trauen.
Es ist Mittagszeit, und ich gehe
ins „Kasino“, die große Kantine, und bin plötzlich mit Hunderten bunten
Menschen zusammen, reges Treiben. Ich reihe mich ein, Selbstbedienung, und wie
in der Uni-Mensa in Magdeburg, gibt es hier eine extra Cash-Kasse. Man kann als
Externer bar bezahlen. Ich setze mich zwischen die vielen Menschen, esse,
beobachte. Sie wirken auf mich nicht eingebildet, halten sich nicht für etwas
Besseres. Gleiche unter Gleichen? Anders, als ich das manchmal in der Kantine
einer Rundfunkanstalt empfinde. Oder liegen mir die Techniker und Ingenieurinnen
besser als die Media-Menschen?
Ich höre neben mir Englisch, Unterhaltungen
in Spanisch, oder ist es Portugiesisch?
Traum oder nicht Traum?
Im Rahmen meiner früheren
Tätigkeiten habe ich viele Kontakte und Zugang zu großen Firmen an imposanten
Firmenstandorten gehabt. In Deutschland, Dubai, den USA, China. Ich war
unterwegs in Highspeed-Zügen, Flugzeugen, wurde in Luxuslimousinen chauffiert
und habe in berühmten Hotels logiert. Wenn ich mich in dieser Welt bewegt habe,
geriet ich oft in Euphorie, wurde als Ingenieur von dem „Technik-kann
fast-alles-Virus“ und vom „Alles-ist-möglich-Bakterium“ angesteckt und bewegt.
Die Kombination von genialen und statisch noch nie gesehenen, halsbrecherischen
Architekturen bis hoch in den Himmel, tat das Ihre, sodass ich ernsthaft darüber
nachdachte, in Amerika zu arbeiten oder einige Jahre in China zu leben. Ich
wollte Teil jener Welt sein, mich dem Sog, dem Schwung hingeben, so, als wenn
man im Rausch und überdreht von der geilsten Musik, ohne Anstrengungen abtanzt,
wie ein ewig junger Gott.
Kehrte ich in die heimische Provinz
zurück, fehlte mir manchmal doch das Große, die weite bunte Welt.
Zu pathetisch vielleicht? „Schau’n
mer mal“, und „mia san mia“ heißt es hier in Bayern. Mag sein, vielleicht gibt
es in Magdeburg die richtige Mischung für die anstehenden Veränderungen: Bodenständige
Euphorie, gepaart mit realistischem Optimismus, und ein vorwärtsweisendes und
gleichzeitig situatives Beharrungsvermögen, dazu eine gehörige Portion Pragmatismus.
Im Münchener Lokalteil der „Süddeutschen
Zeitung“ fragt man sich, was für die Stadt die neuerdings angekündigten zwei
großen Investitionen von je einer Milliarde Euro von Apple und Kollegen für die
Stadtentwicklung bedeuten. Die Relation: Die Gesamtinvestition soll in
Magdeburg 13-mal größer sein, dafür beträgt die Magdeburger Einwohnerzahl ein
Sechstel der Münchener. Klar, dass bei der Relation in Magdeburg noch ganz
andere Fragen dringlich sind.
Zum Runterkommen noch ein Cappuccino, ich schaue mich um, die ehemalige Magdeburger Pressesprecherin, jetzt „Public Affairs Manager, Intel Corporation“ werde ich hier zufällig nicht treffen. Aber ich werde versuchen, sie demnächst über LinkedIn zu erreichen.
Mein Rückweg führt an der noch auf
dem Gelände befindlichen großen Kindertagesstätte vorbei, wo im Hof eine
Kindermeute deutlich hörbar hyperaktiv herumhämmert und -sägt. Die künftige
Generation KI – oder besser „generation ai“, noch handwerklich betriebsam. Auf
dem Weg durch den Park zur S-Bahnstation „Fasanenpark“ trabt mir eine Joggerin
entgegen, ein paar Minuten später kommt die S3 und nach 20 Minuten bin ich
am Münchener Marienplatz. Ich will noch in die „Pinakothek der Moderne“, dort
kann man neuerdings die KI schon im Museum betrachten.
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