Was hat Stadtfeld-West (an der Schrote) mit Halle-Ost (an der Saale) zu tun?
Ich habe in den letzten Wochen
zwei spezielle Klassenräume kennengelernt, die unterschiedlicher kaum sein
können, aber doch etwas miteinander zu tun haben. Aber dazu später.
„Ottos grünes Klassenzimmer“
Anfang Mai traf ich Felix Bosdorf
und weitere Mitglieder der Initiative „Otto pflanzt!“ e. V. in „Ottos grünem
Klassenzimmer“. Ein ehemaliger Schulgarten in Stadtfeld West, zuletzt zu
DDR-Zeiten bewirtschaftet. Nach dem Eintritt durch das offene Gartentor: Links
und rechts wuchernde und schon voll im Saft stehende wild verwachsene Bäume und
Sträucher. Mir fällt spontan „Grüne Hölle“ ein. Diese Bezeichnung wäre umso
berechtigter, wenn man von den gepflegten Parkanlagen beiderseits der Schrote oder
von der nüchternen Harsdorfer Straße in dieses vergessene Gartenreich kommt.
Aber so möchte Felix das
schätzungsweise vier- bis fünftausend Quadratmeter große Areal zwischen
Schrote, Gartenparzellen des Kleingartenvereins „Eichelschanze“ und den Plätzen
des Tennisklubs „Germania“, nicht genannt hören. „Hölle“ könnte negativ
konnotiert sein, Kindern Angst machen, meint er. Was passt besser?, frage ich
ihn. „Paradies?“, ist seine Idee? Vielleicht sogar „Green Paradise?“, lege ich nach.
Nein, vom „Paradies“ möchte er doch Abstand nehmen. Also einigen wir uns auf „Grünes
Klassenzimmer“, sollen hier doch ab dem nächsten Schuljahr Schüler und
Schülerinnen der benachbarten Montessori-Schule mithelfen, diesen alten Garten zu
wecken, ihn zu beleben ‒ und dabei gleichzeitig etwas lernen.
Birgit Habenicht in Aktion |
Dafür wird im wahrsten Sinne des Wortes das (Lern)-Feld vorbereitet. Ich treffe auf Birgit Habenicht, Lehrerin im Ruhestand. Mit Arbeitshandschuhen, Schubkarre und Gartenschere ausgestattet, sucht sie Altholz und Baumschnitt zusammen, um damit ein Totholzbiotop anzureichern oder einen Flechtzaun weiterzubauen. Sie kann sich auch vorstellen, später im Garten dort die Kinder der Klassen eins bis vier im Garten zu betreuen. Von wegen Ruhestand! Später kommt Ralf Dounz-Weigt dazu, der dieses Areal entdeckt hat und über seine Verbindung zur Montessori-Schule den Lernort der besonderen Art anbieten möchte.
Flechtzaum um einen Apfelbaum |
„Otto pflanzt!“ hat sich noch viel mehr vorgenommen. Einige
der 242.000 Bäume, die der Verein auch als Stadtwald-Projekt anpflanzen möchte,
werden hier ihre Wurzeln schlagen, denn der alte Baumbestand soll durch junge Obstbäume
ergänzt werden. So werden die Kinder mit den Bäumen aufwachsen, Apfel-, Birnen-
und Beerensorten kennenlernen, eine Ahnung von dem Nutzen einer Streuobstwiese
bekommen und begreifen, dass Apfel nicht gleich Apfel ist. Und: Wie sieht ein
Johannisbeerstrauch aus? Was ist das für ein Kraut, warum gibt es mal mehr
weiße, mal gelbe und dann wieder viele rote Blüten?
Ist es nicht weltfremd, heutige
Stadtkinder mit Gartenthemen von TikTok, dem Fernsehen und anderen kommerziellen
Kids-Events weglocken zu wollen? Da sprechen die Erfahrungen eine andere
Sprache, berichtete mir Felix. Die Gartenwelt kann für Kinder ein
Abenteuerplatz sein, eine vertraute Wildnis, eine nützliche Ressource oder ein
Versteckspiel-Dorado. Gerade diese natürliche Vielfalt, die sich in den letzten
zwanzig, dreißig Jahren hier entwickelt hat, sei besser als viele
Social-Media-Klicks und Likes, wenn die Kinder das erstmal kennen- und
liebengelernt haben. Innerhalb von Schulprojekten habe die „Otto pflanzt!“-Crew
schon positive Erfahrungen gemacht, so dass neben Aktionen in der Schule die
Kinder sogar in der Freizeit ihren Eltern mit Begeisterung beim Bäumepflanzen geholfen
haben.
Unser Gespräch wird immer wieder
von lautem Motorengeräusch gestört. Eine Motorsense als mechanische Machete, um
Freiflächen für das grüne Klassenzimmer zu schaffen?, fährt mit durch den Kopf.
Brunnenloch mit Grundwasser |
Es ist eine Motorpumpe, stellt
sich heraus. Ein Mitarbeiter einer Brunnenfirma ist dabei, einen alten
Grundwasserbrunnen zu reaktivieren. Ein Rohr steckt senkrecht in der Erde,
einen halben Meter über und fünf, sechs Meter tief in der Erde. Tatsächlich, in
circa 1,8 Meter Tiefe ist der Wasserspiegel zu erkennen. Der Brunnen ist
ergiebig, das Wasser aus dem Pumpenschlauch wird gleich in große Tanks gefüllt,
für trockene Zeiten. Felix, Birgit und Ralf stehen zusammen, ihre Freizeit- und
Arbeitskleidung lässt sie zupackend aussehen. Sie freuen sich, dass der Brunnen
funktioniert und so der Garten auch in Zukunft bewässert werden kann. Wie es im
Sommer aussehen wird, bleibt allerdings fraglich. Die benachbarte Schrote war
in den letzten Jahren im Hochsommer immer wieder trockengefallen. Das war, wie
Felix es aus den Erzählungen seines Vaters kennt, seit 1968 bis Anfang der
2000er-Jahre nur einmal vorgekommen, aber in den Jahren danach schon dreimal, was
auf einen heute deutlich niedrigeren Grundwasserstand hindeutet. Aber
vielleicht genügen die fünf Meter Brunnentiefe, auch wenn die Ergiebigkeit
geringer sein wird.
Felix
Bosdorf - Birgit Habenicht - Mitarbeiter der Pumpenfirma -Ralf Dounz-Weigt |
Apropos Wasser. Ich hatte Felix bei
meiner Lesung mit Gespräch zu meinem Intel-Blog am Tag vorher in der
Stadtbibliothek kennengelernt, bei dem auch ein Gewässerbiologe als Fachmann
zugegen war. Felix fiel mir zu dem umstrittenen Thema „Intel und der Wasserverbrauch“
als engagierter Disputant auf. Ich erinnere mich, dass der Biologe vom Helmholtz-Institut
es nicht sehr kritisch sah, wenn das Wasser als Uferfiltrat der Elbe entnommen
würde, denn der Schutz des Grundwassers sei von viel elementarer Bedeutung. Das
könnte doch eine praktische Unterrichtseinheit im grünen Klassenzimmer werden,
rege ich an.
Baumkunst der Crew "Fruchtschnitten" (Obstbaumbeschneider) |
Im weiteren Gespräch wird deutlich,
dass es sich bei dem Verein „Otto pflanzt!“ nicht um naive Gartentraumwandler handelt,
sondern dass sie auch konstruktiv auf das Thema Technik und Natur eingehen.
Wenn es sich abzeichnet, dass das Intel-Projekt im Sinne der Magdeburger
Realität wird, dann wollen sie als Verein mithelfen, für die Natur und ihre
Ressourcen das Beste daraus zu machen. Dies feststellend, gibt Felix gleich ein
Beispiel: „Wir sind keine Technikverweigerer, sondern setzen mit den Kindern auch
mal die Handy-App „Flora Incognita“ oder andere Apps mit KI-Funktionen ein, um
Pflanzen zu identifizieren, um mehr über sie zu erfahren. Aber etwas exotisch
wirkt für mich die Verstellung doch: Ein Handy mit KI-App in dieser grünen Naturvielfalt.
Bei meiner Recherche zu diesem Beitrag schaute ich mir auf der Webseite https://www.ad-magazin.de/artikel/pflanzen-apps noch andere Pflanzenerkennungs-Apps an, und, Zufall oder KI-Algorithmus, es poppte prompt eine Web-Anzeige von Intel mit www.jobs.intel.com.germany auf.
„Classroom for the future“
Intel. Ich erinnere mich an eine
Parallelwelt zu „Ottos grünem Klassenzimmer“, an meine Teilnahme an der
feierlichen Eröffnung des „CLASSROOM OF THE FUTURE“ am 19. April 2024. Was gibt
es da im Rückblick als grüne Brücke?
Ein amerikanisches
Gemeinschaftsprojekt von Intel und seinem größten Kunden DELL im
sachsen-anhaltischen Halle an der Saale. Der überfüllte große Veranstaltungsraum,
vereinzelt von abgestandenen Gummibaum-Monokulturen flankiert. Dagegen dominierte
bei den Ehrengästen, den Rednern und der Rednerin formaler Business-Dress. In
den hinteren, gut besetzten Reihen und auf den Stehplätzen, augenscheinlich
Teile der DELL-Belegschaft, überwog der Casual-Friday-Dresscode.
Veranstaltungsraum mit Gummibaumgrün |
Durch ein Labyrinth von langen kahlen Fluren, ein nüchternes Treppenhaus und zu querenden Großraumbüros gelangte man nach dem offiziellen Teil zum „CLASSROOM OF THE FUTURE“. Es scheiterte der Versuch, die ca. 250 Personen aus dem Veranstaltungsraum in diesem ca. sechs mal zehn Meter großen Raum unterzubringen. Das Gedränge groß, so viele Menschen und Technik in einen Raum beeindruckend. Mehr „ging“ nicht. Schüler- oder Lehrerschwemme?
Hochbetrieb in der Zukunft des Klassenzimmers |
Mittendrin Präsident und Minister, die sich von
einer jungen Intel-DELL-Crew – dem „Team Wonderful“, wie auf den T-Shirts zu
lesen war – zeigen ließ, was man schon gelernt hatte. Auf den Fotos, die ich gemacht
habe, konnte ich später tatsächlich im Hintergrund die grünen Spitzen von ein
paar Yucca-Büro-Palmen entdecken. Ich lernte, dass es kein Klassenraum für
Schüler und Schülerinnen ist, sondern für Lehrer und Lehrerinnen. Sie sollen die
Vielfalt des IT-Angebotes – alles im minimalistischen Design, in vornehmen Anthrazit-
und matten Silbertönen – und dessen Einsatz und Möglichkeiten im späteren Unterricht
in DELL-Seminaren kennen lernen. Also: „Train the trainer“, um mit deren Unterstützung
die Hard- und Softwarekomponenten in möglichst viele „CLASSROOMs OF THE FUTURE“,
in die „Fläche“ zu bringen.
Team "Wonderfull" im "CLASSROOM FOR THE FUTURE" |
Der Kreis schließt sich zum
Kreislauf
Kehren wir gedanklich wieder
zurück nach Magdeburg, ins Stadtfeld, in Ottos grünes Klassenzimmer, zum
Wasser, zum Grundwasser. Felix sprach davon, dass „Otto pflanzt!“ sich auf einen
Aufruf von Intel hin beworben hat. Da sollten Vorschläge gemacht werden, wie
Intel seine Wasserbilanz insgesamt so verbessern könnte, dass unterm Strich
mehr Wasser dabei herauskommt als der Natur durch die Intel-Werke entzogen
wird. Intel möchte bis 2030 „wasserpositiv“ werden, so ist das Ziel bestimmt. Es
gab dazu eine Intel-Video-Call-Runde, an denen neben „Otto pflanzt!“ circa 30 Gruppen,
NGOs und Initiativen aus ganz Deutschland beteiligt waren. Da wurden verschiedene
Projektideen vorgestellt. Dabei ging es, wenn ich es richtig verstanden habe,
um Kompensationsmaßnahmen – ähnlich, wie man durch Zertifikate seine CO₂-Bilanz
verbessern kann – wie man mit (finanzieller?) Unterstützung von Intel Wasserreservoirs
retten, schützen oder ausbauen kann. Intel möchte auch mit lokalen Initiativen
zusammenarbeiten, die zum Beispiel dazu beitragen, den Grundwasserspiegel zu erhöhen.
Der Vorschlag von „Otto pflanzt!“ war, so erinnert sich Felix, mit Bäumen und
Wäldern positiv auf die Wasserbilanz in der Region einzuwirken. Was aus der
Zusammenarbeit mit Intel wird, ist noch nicht klar. Das Auswahlverfahren der
Projekte läuft noch.
Felix am Grundwasserbrunnen |
Wer weiß, vielleicht werden die heutigen
Kinder in „Ottos grünem Klassenzimmer“ durch die dortige Natur sensibilisiert, bringen
mehr Grün in die „CLASSROOMs OF THE FUTURE“, um dann durch KI motiviert, anschließend
ein Studium der Biologie oder Sustainable Resources oder Advanced
Semiconductor Nanotechnologies zu absolvieren. Und werden später Intel-Mitarbeiterinnen
oder Mitarbeiter. Und wenn sie in zwanzig, dreißig Jahren im Hochsommer, nach
Feierabend von Intel kommend, entlang der Schrote zurück in ihr Stadtfeld
fahren, Felix im grünen Klassenzimmer zuwinken und feststellen, dass die
Schrote trotz längerer Trockenheit auf natürliche Weise doch noch immer Wasser
führt, dann haben sie (wir?) vielleicht vieles richtig gemacht.
Für mich bleibt die Frage: Wer braucht wen mehr? „Otto pflanzt!“ Intel? Oder Intel „Otto pflanzt!“?
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