Dienstag, 21. Mai 2024

# 052 Eine Klasse für sich - Natur oder Technik als Lehrmeisterinnen?

Was hat Stadtfeld-West (an der Schrote) mit Halle-Ost (an der Saale) zu tun?

Ich habe in den letzten Wochen zwei spezielle Klassenräume kennengelernt, die unterschiedlicher kaum sein können, aber doch etwas miteinander zu tun haben. Aber dazu später.

„Ottos grünes Klassenzimmer“

Anfang Mai traf ich Felix Bosdorf und weitere Mitglieder der Initiative „Otto pflanzt!“ e. V. in „Ottos grünem Klassenzimmer“. Ein ehemaliger Schulgarten in Stadtfeld West, zuletzt zu DDR-Zeiten bewirtschaftet. Nach dem Eintritt durch das offene Gartentor: Links und rechts wuchernde und schon voll im Saft stehende wild verwachsene Bäume und Sträucher. Mir fällt spontan „Grüne Hölle“ ein. Diese Bezeichnung wäre umso berechtigter, wenn man von den gepflegten Parkanlagen beiderseits der Schrote oder von der nüchternen Harsdorfer Straße in dieses vergessene Gartenreich kommt.  

Aber so möchte Felix das schätzungsweise vier- bis fünftausend Quadratmeter große Areal zwischen Schrote, Gartenparzellen des Kleingartenvereins „Eichelschanze“ und den Plätzen des Tennisklubs „Germania“, nicht genannt hören. „Hölle“ könnte negativ konnotiert sein, Kindern Angst machen, meint er. Was passt besser?, frage ich ihn. „Paradies?“, ist seine Idee? Vielleicht sogar „Green Paradise?“, lege ich nach. Nein, vom „Paradies“ möchte er doch Abstand nehmen. Also einigen wir uns auf „Grünes Klassenzimmer“, sollen hier doch ab dem nächsten Schuljahr Schüler und Schülerinnen der benachbarten Montessori-Schule mithelfen, diesen alten Garten zu wecken, ihn zu beleben ‒ und dabei gleichzeitig etwas lernen.

Birgit Habenicht in Aktion

Dafür wird im wahrsten Sinne des Wortes das (Lern)-Feld vorbereitet. Ich treffe auf Birgit Habenicht, Lehrerin im Ruhestand. Mit Arbeitshandschuhen, Schubkarre und Gartenschere ausgestattet, sucht sie Altholz und Baumschnitt zusammen, um damit ein Totholzbiotop anzureichern oder einen Flechtzaun weiterzubauen. Sie kann sich auch vorstellen, später im Garten dort die Kinder der Klassen eins bis vier im Garten zu betreuen. Von wegen Ruhestand! Später kommt Ralf Dounz-Weigt dazu, der dieses Areal entdeckt hat und über seine Verbindung zur Montessori-Schule den Lernort der besonderen Art anbieten möchte. 

Flechtzaum um einen Apfelbaum

„Otto pflanzt!“ hat sich noch viel mehr vorgenommen. Einige der 242.000 Bäume, die der Verein auch als Stadtwald-Projekt anpflanzen möchte, werden hier ihre Wurzeln schlagen, denn der alte Baumbestand soll durch junge Obstbäume ergänzt werden. So werden die Kinder mit den Bäumen aufwachsen, Apfel-, Birnen- und Beerensorten kennenlernen, eine Ahnung von dem Nutzen einer Streuobstwiese bekommen und begreifen, dass Apfel nicht gleich Apfel ist. Und: Wie sieht ein Johannisbeerstrauch aus? Was ist das für ein Kraut, warum gibt es mal mehr weiße, mal gelbe und dann wieder viele rote Blüten?  

Ist es nicht weltfremd, heutige Stadtkinder mit Gartenthemen von TikTok, dem Fernsehen und anderen kommerziellen Kids-Events weglocken zu wollen? Da sprechen die Erfahrungen eine andere Sprache, berichtete mir Felix. Die Gartenwelt kann für Kinder ein Abenteuerplatz sein, eine vertraute Wildnis, eine nützliche Ressource oder ein Versteckspiel-Dorado. Gerade diese natürliche Vielfalt, die sich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren hier entwickelt hat, sei besser als viele Social-Media-Klicks und Likes, wenn die Kinder das erstmal kennen- und liebengelernt haben. Innerhalb von Schulprojekten habe die „Otto pflanzt!“-Crew schon positive Erfahrungen gemacht, so dass neben Aktionen in der Schule die Kinder sogar in der Freizeit ihren Eltern mit Begeisterung beim Bäumepflanzen geholfen haben.

Unser Gespräch wird immer wieder von lautem Motorengeräusch gestört. Eine Motorsense als mechanische Machete, um Freiflächen für das grüne Klassenzimmer zu schaffen?, fährt mit durch den Kopf.

Brunnenloch mit Grundwasser

Es ist eine Motorpumpe, stellt sich heraus. Ein Mitarbeiter einer Brunnenfirma ist dabei, einen alten Grundwasserbrunnen zu reaktivieren. Ein Rohr steckt senkrecht in der Erde, einen halben Meter über und fünf, sechs Meter tief in der Erde. Tatsächlich, in circa 1,8 Meter Tiefe ist der Wasserspiegel zu erkennen. Der Brunnen ist ergiebig, das Wasser aus dem Pumpenschlauch wird gleich in große Tanks gefüllt, für trockene Zeiten. Felix, Birgit und Ralf stehen zusammen, ihre Freizeit- und Arbeitskleidung lässt sie zupackend aussehen. Sie freuen sich, dass der Brunnen funktioniert und so der Garten auch in Zukunft bewässert werden kann. Wie es im Sommer aussehen wird, bleibt allerdings fraglich. Die benachbarte Schrote war in den letzten Jahren im Hochsommer immer wieder trockengefallen. Das war, wie Felix es aus den Erzählungen seines Vaters kennt, seit 1968 bis Anfang der 2000er-Jahre nur einmal vorgekommen, aber in den Jahren danach schon dreimal, was auf einen heute deutlich niedrigeren Grundwasserstand hindeutet. Aber vielleicht genügen die fünf Meter Brunnentiefe, auch wenn die Ergiebigkeit geringer sein wird.

Felix Bosdorf - Birgit Habenicht - Mitarbeiter
der Pumpenfirma -Ralf Dounz-Weigt

Apropos Wasser. Ich hatte Felix bei meiner Lesung mit Gespräch zu meinem Intel-Blog am Tag vorher in der Stadtbibliothek kennengelernt, bei dem auch ein Gewässerbiologe als Fachmann zugegen war. Felix fiel mir zu dem umstrittenen Thema „Intel und der Wasserverbrauch“ als engagierter Disputant auf. Ich erinnere mich, dass der Biologe vom Helmholtz-Institut es nicht sehr kritisch sah, wenn das Wasser als Uferfiltrat der Elbe entnommen würde, denn der Schutz des Grundwassers sei von viel elementarer Bedeutung. Das könnte doch eine praktische Unterrichtseinheit im grünen Klassenzimmer werden, rege ich an.

Baumkunst der Crew "Fruchtschnitten" (Obstbaumbeschneider)

Im weiteren Gespräch wird deutlich, dass es sich bei dem Verein „Otto pflanzt!“ nicht um naive Gartentraumwandler handelt, sondern dass sie auch konstruktiv auf das Thema Technik und Natur eingehen. Wenn es sich abzeichnet, dass das Intel-Projekt im Sinne der Magdeburger Realität wird, dann wollen sie als Verein mithelfen, für die Natur und ihre Ressourcen das Beste daraus zu machen. Dies feststellend, gibt Felix gleich ein Beispiel: „Wir sind keine Technikverweigerer, sondern setzen mit den Kindern auch mal die Handy-App „Flora Incognita“ oder andere Apps mit KI-Funktionen ein, um Pflanzen zu identifizieren, um mehr über sie zu erfahren. Aber etwas exotisch wirkt für mich die Verstellung doch: Ein Handy mit KI-App in dieser grünen Naturvielfalt.

Bei meiner Recherche zu diesem Beitrag schaute ich mir auf der Webseite https://www.ad-magazin.de/artikel/pflanzen-apps noch andere Pflanzenerkennungs-Apps an, und, Zufall oder KI-Algorithmus, es poppte prompt eine Web-Anzeige von Intel mit www.jobs.intel.com.germany auf. 

„Classroom for the future“

Intel. Ich erinnere mich an eine Parallelwelt zu „Ottos grünem Klassenzimmer“, an meine Teilnahme an der feierlichen Eröffnung des „CLASSROOM OF THE FUTURE“ am 19. April 2024. Was gibt es da im Rückblick als grüne Brücke?

Ein amerikanisches Gemeinschaftsprojekt von Intel und seinem größten Kunden DELL im sachsen-anhaltischen Halle an der Saale. Der überfüllte große Veranstaltungsraum, vereinzelt von abgestandenen Gummibaum-Monokulturen flankiert. Dagegen dominierte bei den Ehrengästen, den Rednern und der Rednerin formaler Business-Dress. In den hinteren, gut besetzten Reihen und auf den Stehplätzen, augenscheinlich Teile der DELL-Belegschaft, überwog der Casual-Friday-Dresscode.

Veranstaltungsraum mit Gummibaumgrün

Durch ein Labyrinth von langen kahlen Fluren, ein nüchternes Treppenhaus und zu querenden Großraumbüros gelangte man nach dem offiziellen Teil zum „CLASSROOM OF THE FUTURE“. Es scheiterte der Versuch, die ca. 250 Personen aus dem Veranstaltungsraum in diesem ca. sechs mal zehn Meter großen Raum unterzubringen. Das Gedränge groß, so viele Menschen und Technik in einen Raum beeindruckend. Mehr „ging“ nicht. Schüler- oder Lehrerschwemme?

Hochbetrieb in der Zukunft des Klassenzimmers

Mittendrin Präsident und Minister, die sich von einer jungen Intel-DELL-Crew – dem „Team Wonderful“, wie auf den T-Shirts zu lesen war – zeigen ließ, was man schon gelernt hatte. Auf den Fotos, die ich gemacht habe, konnte ich später tatsächlich im Hintergrund die grünen Spitzen von ein paar Yucca-Büro-Palmen entdecken. Ich lernte, dass es kein Klassenraum für Schüler und Schülerinnen ist, sondern für Lehrer und Lehrerinnen. Sie sollen die Vielfalt des IT-Angebotes – alles im minimalistischen Design, in vornehmen Anthrazit- und matten Silbertönen – und dessen Einsatz und Möglichkeiten im späteren Unterricht in DELL-Seminaren kennen lernen. Also: „Train the trainer“, um mit deren Unterstützung die Hard- und Softwarekomponenten in möglichst viele „CLASSROOMs OF THE FUTURE“, in die „Fläche“ zu bringen.

Team "Wonderfull" im "CLASSROOM FOR THE FUTURE"

Der Kreis schließt sich zum Kreislauf

Kehren wir gedanklich wieder zurück nach Magdeburg, ins Stadtfeld, in Ottos grünes Klassenzimmer, zum Wasser, zum Grundwasser. Felix sprach davon, dass „Otto pflanzt!“ sich auf einen Aufruf von Intel hin beworben hat. Da sollten Vorschläge gemacht werden, wie Intel seine Wasserbilanz insgesamt so verbessern könnte, dass unterm Strich mehr Wasser dabei herauskommt als der Natur durch die Intel-Werke entzogen wird. Intel möchte bis 2030 „wasserpositiv“ werden, so ist das Ziel bestimmt. Es gab dazu eine Intel-Video-Call-Runde, an denen neben „Otto pflanzt!“ circa 30 Gruppen, NGOs und Initiativen aus ganz Deutschland beteiligt waren. Da wurden verschiedene Projektideen vorgestellt. Dabei ging es, wenn ich es richtig verstanden habe, um Kompensationsmaßnahmen – ähnlich, wie man durch Zertifikate seine CO₂-Bilanz verbessern kann – wie man mit (finanzieller?) Unterstützung von Intel Wasserreservoirs retten, schützen oder ausbauen kann. Intel möchte auch mit lokalen Initiativen zusammenarbeiten, die zum Beispiel dazu beitragen, den Grundwasserspiegel zu erhöhen. Der Vorschlag von „Otto pflanzt!“ war, so erinnert sich Felix, mit Bäumen und Wäldern positiv auf die Wasserbilanz in der Region einzuwirken. Was aus der Zusammenarbeit mit Intel wird, ist noch nicht klar. Das Auswahlverfahren der Projekte läuft noch.

Felix am Grundwasserbrunnen

Wer weiß, vielleicht werden die heutigen Kinder in „Ottos grünem Klassenzimmer“ durch die dortige Natur sensibilisiert, bringen mehr Grün in die „CLASSROOMs OF THE FUTURE“, um dann durch KI motiviert, anschließend ein Studium der Biologie oder Sustainable Resources oder Advanced Semiconductor Nanotechnologies zu absolvieren. Und werden später Intel-Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter. Und wenn sie in zwanzig, dreißig Jahren im Hochsommer, nach Feierabend von Intel kommend, entlang der Schrote zurück in ihr Stadtfeld fahren, Felix im grünen Klassenzimmer zuwinken und feststellen, dass die Schrote trotz längerer Trockenheit auf natürliche Weise doch noch immer Wasser führt, dann haben sie (wir?) vielleicht vieles richtig gemacht.

Für mich bleibt die Frage: Wer braucht wen mehr? „Otto pflanzt!“ Intel? Oder Intel „Otto pflanzt!“?

Informationen zu „Otto pflanzt!“ e. V. und „Ottos grünem Klassenzimmer“ finden Sie unter www.ottopflanzt.de. Der Verein freut sich über ehrenamtliche Mithilfe.

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