Samstag, 11. Mai 2024

# 051 b „K wie Karambolage“ - Ein VR-Movie - (gekürzte Lese-Fassung)

Ich hatte mich gleich bereit erklärt, den Ortstermin wahrzunehmen. Es passte in meinen Plan, von Prag aus auf seinen Spuren zu wandeln und seine Reisen nachzuvollziehen. Magdeburg lag schon auf halber Strecke zur Insel Norderney, aber das behielt ich für mich. Dorthin hatte K. als junger Mann allein seine erste Reise unternommen. War er auch über Magdeburg gefahren, um sich dort über Fragen der Arbeitssicherheit zu informieren? Magdeburg war damals neben Böhmen ein wichtiges Industriezentrum.

Seit einiger Zeit mehrten sich die Anfragen von meinen tschechischen Landsleuten, ob unsere Versicherungs-Policen auch gelten, wenn man auf dieser Baustelle in Deutschland arbeiten und in Magdeburg leben würde. Dort sollte etwas Neues entstehen: Riesige Giga-Chip-Fabs.

„Wir müssen uns den neuen Technologien stellen, Umfeld und Risiken ausleuchten und vor allem die Rolle der KI begreifen“, verkündigte ich den Herren Direktoren. Denen gefiel das: „Da müssen jetzt die jungen Leute ran, das ist die Zukunft, also los!“, hieß es.

Jung war ich. Ich sprach auch Deutsch. Die Herren waren so gut gelaunt, dass ich ein paar Urlaubstage anhängen durfte. Beim Umstieg in Dresden kaufte ich die aktuelle „Süddeutsche“ und das „Handelsblatt“. Für meine Recherchen hatte ich auf meinem Notebook den Abo-Zugang zur „Magdeburger Volksstimme“, die ich im  ICE nach Leipzig durchforstete, Stichwort „Intel“.

Für den Zwischenstopp in Leipzig, der Stadt der Bücher, wollte ich mir etwas Zeit nehmen, um auf seinen Spuren zu wandeln, die in Prag schon zu ausgetreten waren. In Leipzig hatte er die ersten Verleger für „Die Verwandlung“ und „Das Urteil“ gefunden. Die Cafés und Kneipen, in denen er damals verkehrte, gab es nicht mehr. Vielleicht aber noch einen anderen, in seinem Tagebuch mit „B“ verklausulierten Ort. Das führte meine Überlegungen wieder zurück zu meinem Auftrag: Bis zu siebentausend Bauleute, überwiegend Männer, über Jahre in Magdeburg, hatte ich gelesen. Da könnten sich auch im Umfeld von „B“ Versicherungsfälle ergeben.

Das nasskalte Wetter trieb mich früher als gedacht zum Bahnhof zurück. Seine monumentale Fassade ragte in der Dämmerung bedrohlich auf, verwandelte sich aber dahinter in die Glitzerwelt eines tiefgründigen Promenaden-Bahnhofs, in die ich hinabstieg.

Da fiel mir eine  Frau auf, die mich an Miluška erinnerte. Ich hätte sie aber niemals angesprochen, als sie mir, mit seltsam angehobenem Haupt, in der Einkaufspassage entgegenkam, direkt auf mich zu. Ich stoppte. Sie lief weiter, touchierte mich an der linken Schulter, änderte darauf ruckartig die Richtung und stieß mit dem Knie einen Werbeaufsteller um. Sie blieb wie erstarrt stehen, als wenn jemand plötzlich „Freeze!“ kommandiert hätte. Ich war mit ein paar Schritten bei ihr. Sie war nicht ansprechbar. Ein Schock? Wir schauten uns an, aber sie war wie in einer anderen Welt und kam nur langsam zu sich, sagte kein Wort. Sie fing an, mich zu berühren, drückte mit flachen Händen gegen meine Brust, packte mich an beiden Schultern und schüttelte mich, zuerst vorsichtig, dann kräftiger. Ich war irritiert, wir kannten uns nicht, mir fehlten auch die Worte.

„Sie sind ja echt …“, stammelte sie, etwas ungläubig, als wäre ich ein Geist aus dem letzten Jahrhundert. „Wirklich echt!“ rief sie, ließ mich los und tastete mit beiden Händen ihr Gesicht ab, als suche sie etwas. Die Starre in ihrem Gesicht war einem leichten Lachen gewichen. Sie drehte sich um und ging, leicht humpelnd, in die Richtung, aus der sie gekommen war. Ich blieb starr stehen, ging erst nach einer Weile zum Bahnsteig.

Kein ICE nach Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt? Im IC, der Norddeich-Mole, den Fähranleger nach Norderney, als Endstation auf der Anzeigentafel auswies, vertiefte ich mich wieder in mein Recherchematerial. Erst die Arbeit, dann das heimliche Ziel.

Richtig voll wurde der Zug in Halle. Ein älterer Herr fragte höflich: „Sorry, ist der Platz neben Ihnen noch frei?“. Ich räumte meinen Rucksack weg. Der Mann streckte sein linkes Bein vorsichtig in den Gang aus. Es ließ sich nicht vermeiden, dass er zusah, wie ich die verschiedenen Zeitungsartikel auf dem Laptop-Bildschirm aufrief. Ungeniert verfolgte er alles. Selbst als ich mich demonstrativ zurücklehnte, die Arme vor der Brust verschränkte, ihn direkt ansah, beugte sich der ungebetene Mitleser vor, um auch noch die letzten Details auf dem meinem Bildschirm zu erkennen.

„Soll ich es Ihnen noch etwas vergrößern?“, fragte ich laut genug, dass einige der Umsitzenden aus ihrem Dämmern mit einem kaum wahrnehmbaren Ruck auffuhren.

„Entschuldigen Sie, ich weiß, das ist nicht höflich, ich war so überrascht, aber ich befasse mich auch gerade mit Intel“.

„Meine Befassung mit dem Thema ist vertraulich, wenn Sie wissen, wie ich das meine.“

„Wissen Sie, was ich gerade erlebt habe?“

Wusste ich nicht, aber dass es mit meiner beschaulichen Recherchearbeit zu Ende war, das wusste ich. „Was denn?“

„Ich möchte nicht stören. Machen Sie ruhig weiter“.

„Und was haben Sie erlebt?“, wandte ich mich ihm zu und signalisierte damit, dass ich bereit wäre, ihm zuzuhören. Vielleicht konnte ich meine Recherchen so fortsetzen.

„Das hätten Sie sehen müssen, bei DELL, vom Polylux zum Ätsch -Em-Di.“

„DELL … Poly… was?“

„DELL, der Computerhersteller, der mit Intel zusammenarbeitet, hat in Halle eine große Niederlassung.“

„Ach so, wusste ich nicht. Und was ist Poly-Jux?“

„Lux. Polylux. Den hatte man früher in den Schulen, man schrieb mit Stiften auf eine Folie, das Bild wurde dann an die Wand projiziert.“

„Ach so, Sie meinen wahrscheinlich einen Overhead-Projektor!“

„Sie kommen wohl nicht von hier, was?“

„Nein. Und wie hieß das andere? Ätsch-Em-Di? Mein Deutsch ist nicht so gut.“

„Das ist ja auch Amerikanisch. Die drei Buchstaben HMD stehen für Head-Mounted-Display.“

„Kenn ich nicht.“

„Man sagt auch VR-Brille dazu, VR für Virtuelle Realität“, belehrte mich mein Sitznachbar.

„Ah, Virtual-Reality, das habe ich schon mal gehört.“

„Also, die haben da den Klassenraum der Zukunft, alles elektronisch, der ganze Raum voller Computer, große und kleine Bildschirme, vor allem große und ganz große, und Kameras, die alles übertragen, für Webkonferenzen. Unser Ministerpräsident, der Wirtschaftsminister und die Geschäftsführer von Deutschland waren da. Ich sage Ihnen, die haben alle Register gezogen.“

„Und wer sind ‚die‘?“

„Intel und DELL!“

„Ah, jetzt verstehe ich: Intel, wohl unser gemeinsames Thema. Und der Bundeskanzler war da?“

„Der Bundeskanzler? Nein.“

„Sie sagten doch ‚Geschäftsführer von Deutschland‘.“

„Nein, ich meinte die Geschäftsführer von DELL Deutschland und die Geschäftsführerin von Intel Deutschland!“

„Und was haben Sie da gemacht?“

„Heute war doch die offizielle Eröffnung des ‚Classroom of the Future‘. Ich war auch eingeladen. Habe mir dann auch eine VR-Brille aufgesetzt und sie getestet.“

Kurz kam mir der boshafte Gedanke, ob man ihn als Repräsentanten von „Oma und Opas for Future“ eingeladen hatte. „Und wie war‘s?“

„Unglaublich, als wenn man in einer anderen Welt wäre, so realistisch durch die 3-D-Technik. Ich habe eine kleine Fabrik gebaut und simuliert. Eine virtuelle Trainerin gab mir am Ende die Anweisung, auf den KI-Knopf zu drücken und dann …“, er strich dabei über sein im Gang ausgestrecktes Bein und kniff die Augen dabei etwas zu.

 „Und dann?“

„Dann musste ich so einem Roboter aus dem Weg gehen, ganz schnell, und schon tat‘s richtig weh.“

„Mhhh … verstehe. Der Roboter hat Sie erwischt.“

„Dem konnte ich noch ausweichen, weil der Avatar in der VR-Welt ‒ oder sagt man die Avatarin? ‒ egal, ‒ mich warnte. Dann bin ich gerannt, in Echt, hatte aber nicht bedacht, dass ja eigentlich nichts passieren konnte, es war ja alles nur virtuell.“

„Ich verstehe. Ihr Bein?“

„Ja, da stand in der Realität ein Stuhl im Weg und ich dann voll … Oh, Mann … hier genau, an dieser Stelle“. Er zeigte mir die Stelle des Grenzkonfliktes zwischen Virtualität und Realität. „Ich habe mich dann gleich entschuldigt.“

„Beim Stuhl?“

„Nein. Auf dem Stuhl saß eine junge Frau. Ihr ist aber nichts passiert, bis auf den Schreck. Aber wir haben uns nach meiner Verarztung noch nett unterhalten. Sie ist Professorin am hallischen Fraunhofer Institut für Mikrostrukturen, thematisch sehr nah an dem Intel-Thema dran, näher als die Forschungsinstitute in Magdeburg. Darf man in Magdeburg aber nicht so laut sagen.“

„In dem Raum der Zukunft werden Schulklassen unterrichtet?“

„Nicht direkt. Es ist für Lehrer und Lehrerinnen aus der Region, für ‚Learning by doing‘ Aktionen, damit sie wissen, was es alles gibt und was sie in der Schule gebrauchen könnten.“

„Hört sich auch nach ‚Showroom‘ an, also ‘Verkaufsraum‘.“

„Stimmt. Jemand sprach davon, dass dieser ‚Digitalpakt Schule‘ noch bis Ende 2024 läuft, und die Gelder noch nicht ausgeschöpft wären.“

Mein lädierter Sitznachbar erhob sich vorsichtig. „Wir sind gleich in Magdeburg, ich muss da raus. Fahren Sie weiter?“

„Heute noch nicht, ich steige auch aus und schaue mir ein paar Tage Magdeburg an. Mich interessieren die Risiken durch die Verwandlung von Magdeburg infolge der Intel-Ansiedlung. Was das mit den Leuten macht, auch mit den Arbeitern und Arbeiterinnen aus dem Ausland. Welche Risiken oder Probleme sehen Sie denn für die Beschäftigten im Zuge der Intel-Ansiedlung?“

„Was meinen Sie mit ‚Ausland‘?“

„Tschechien.“

„Ach so, Tschechien. Da sehe ich kein so großes Risiko. Aber warten wir die nächsten Wahlergebnisse ab.“

„Sie scheinen sich hier ja gut auszukennen.“

„Oh, da kann ich Ihnen einiges erzählen.“

Da musste ich zufassen: „Schön, dann könnten wir uns vielleicht mal bei einem Kaffee treffen und Sie erzählen mir einiges, auch wie das genau ablief, mit Ihrer realen Verletzung durch VR und KI. Was hätten Sie denn gemacht, wenn die Verletzung schlimmer gewesen wäre? Welche Versicherung wäre dann der Kostenträger für die Behandlung und die Reha gewesen?“

„Also, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.“

„Sehen Sie, das ist mein Job. Daraus kann sich nämlich schnell ein vertrackter Prozess vor Gericht ergeben.“

Wir trafen uns mehrmals. Es wurde vertrauter, wir kamen zum Du, und ich konnte endlich meine Fragen beim Bier im M2 am Hasselbachplatz anbringen:

„Jan“, fragte ich ihn, „ich habe so viel Widersprüchliches gelesen: In der ‚Volksstimme‘ viel Jubel, dann wieder Wasser- und Bodenzweifel, in der ‚Süddeutschen‘ wird das Magdeburger Projekt verglichen mit den neuen Chip-Projekten in Dresden, München und im Saarland, die mehr Sinn machen würden. Joachim Hofer vom ‚Handelsblatt‘ rät Intel, sich diese Investition in Magdeburg zu sparen. Dann heißt es in der ‚Volksstimme‘, dass eigentlich alles in trockenen Tüchern wäre. Aber auf Seite eins, dass Intel hohe Verluste gemacht hat und auch in Zukunft machen wird. Wie passt das alles zusammen?“

Jan reagierte nicht, war offenbar in Gedanken versunken. So setzte ich fort:

„Und wie passt dazu, wie bei LinkedIn zu lesen ist, dass Intel in andere Werke allein 100 Milliarden Dollar investiert? Ist das nicht zu viel des Guten? Spuren von Selbstzweifel sehe ich aber bei Intel nicht. Wird dir da nicht angst und bange um deine Giga-Chip-Fab?“

„Also, erst einmal, lieber Václav, ist das nicht ‚meine‘ Chip-Fab. Selbstzweifel kann ich auch bei den hiesigen Wirtschafts- und Politikleuten nicht entdecken. Du musst die Meldungen und Artikel genau lesen. Dann löst sich der eine oder andere Widerspruch auf. Vielleicht.“

„Jan, ich brauche Fakten für meine Risikobeurteilung!“

„Abwarten kann ich nur sagen, abwarten und noch ein Bier trinken.“

„Aber ich will doch weiter, weiter, auf den Spuren von K.“

„Meinst du Josef K.? Kafka?“

„Genau. Ich versuche, auf seinen Spuren zu wandeln. Aber dass die Intel-Sache hier für mich so verworren und unübersichtlich wird, mich so lange aufhält, das hatte ich nicht erwartet. Was soll ich denn nach Prag berichten?“

„Sag doch, du hättest einen Guide, einen Aufpasser, der dich daran hindert, zum Kern der Sache vorzustoßen, dass du nicht den Mut aufbringst, selbst der Sache auf den Grund zu gehen. Dass das wahrscheinlich im Hintergrund von langer Hand eingefädelt worden und dass die Begegnung im Zug möglicherweise kein Zufall gewesen sei. Der Aufpasser tue nur so, als ob er alles wisse, verweist auf die Zeremonienmeister der Stadt, der Regierung, an die er dich aber nicht herankommen lässt. Dass du dir aber auch nicht sicher bist, ob der Guide sie tatsächlich kennt. Sag, du brauchtest deswegen noch Zeit.“

„Die halten mich in Prag doch für verrückt!“

„Bist du ja auch, vielleicht, ein bisschen.“

„Jan, mal ehrlich: Unser Treffen im Zug war nicht zufällig?“

„Václav, jetzt bist du wirklich verrückt! Gleich behauptest du noch, dass der Zug geheime Abteile hatte, wo man Intel-Erlaubnisscheine holen musste.“

„Das ist mir zu viel. Erlaubnisscheine. Aufpasser. Ich muss jetzt ins Hotel, morgen gehts sehr früh weiter.“

„Stimmt, ja, nach Norderney.“

Im Hotel konnte ich nicht einschlafen und wanderte durchs Zimmer. Ich fühlte mich beobachtet und manipuliert. Ich hatte mit Jan über mein Reiseziel an der Nordsee gesprochen. Er schwärmte allerdings von der Ostseeküste. Ich recherchierte: K. war tatsächlich auch an der Ostsee gewesen! Ich buchte um.

Ich musste grinsen, als ich mir am nächsten Morgen im fast leeren Zug Richtung Ostsee vorstellte, wie Jan mich vergeblich im Zug nach Norddeich-Mole suchen würde, um mich „rein zufällig“ zu treffen.

Im Schwebezustand zwischen Denken und Dämmern fuhr ich dahin, machte schon Pläne, wie ich am nächsten Tag an der Seebrücke Graal-Müritz in Erinnerungen an K. versinken würde, als jemand freundlich fragte: „Sorry, ist der Platz neben Ihnen noch frei?“

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