Freitag, 24. Mai 2024

# 053 Land unter? Intel oder Bio-Dinkel? Lesung mit Gespräch zur Intel-Ansiedlung

Herbert Karl von Beesten und der Landwirt Jörg Claus thematisieren nicht nur den Bördeboden.

Am Montag, dem 3. Juni, ab 17 Uhr, findet die nächste Lesung zum Thema Intel-Ansiedlung in der Stadtbibliothek statt.

Das Thema bleibt auch nach der Verhandlung der Einwendungen zu den Genehmigungsunterlagen.


Die Tradition, dass am ersten Montag eines Monats der Magdeburger Stadtbibliothek am Breiten Weg Herbert Karl von Beesten aktuelle Auszüge aus seinem Intel-Industriekultur-Blog vorträgt und mit einem Gast ins Gespräch mit dem Publikum kommt, wird auch im Juni fortgesetzt. Online-Bloggen ist das eine, persönlicher Vortrag und Diskussion das andere. Deswegen ergänzen sich der Blog und die Bibliotheksveranstaltungen ideal. Auch diesmal steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit „Natur & Zukunft“, oder in Englisch „Nature & Future“ zusammenpassen. War im Mai in der gut besuchten Veranstaltung das Thema „Wasser“ ein heiß diskutiertes Thema, so wird diesmal das Thema „Landwirtschaft und Boden“ im Mittelpunkt stehen.

Land- und Energiewirt Jörg Claus

Herbert Karl von Beesten freut sich, dieses Mal als ausgewiesenen Fachmann Jörg Claus begrüßen zu dürfen. Er ist seit 1991 in Osterweddingen/Sülzetal als Landwirt aktiv, man darf ihn als einen passionierten Vertreter dieses Berufs bezeichnen.  Die industrielle Entwicklung der Region in seiner Umgebung hat dazu geführt, dass er sich intensiv mit dem Spannungsfeld „Landwirtschaft und sinnvoller Naturschutz“ sowie einer überbordenden Flächeninanspruchnahme auseinandergesetzt hat.

Am neuen Selbstverständnis: „Vom Landwirt zum Energiewirt" nimmt er aktiv teil und plant eigene Solarprojekte. Im Ehrenamt ist er Vorsitzender der Stiftung Kulturlandschaft-Sachsen-Anhalt, die für den Bebauungsplan Eulenberg erhebliche Ausgleichsmaßnahmen erbringt.Im März 2023 gab es hier im Blog ein Bericht über ein interessantes Treffen mit Jörg Claus, nachzulesen unter: Aufwärtskompatibel? Neue Industriekultur in Magdeburg durch Intel?: # 008 Im Märzen der Bauer … ein Fließtext aus 2023 (herbert-karl-von-beesten-intel-blog.blogspot.com) 

Auch wenn am 29. Mai in der Johanniskirche die Einwendungen gegen die Genehmigungsunterlagen verhandelt werden, wird das Thema Intel-Ansiedlung mit den verbundenen Transformationen in der Magdeburger Stadtgesellschaft noch auf lange Zeit Thema des Blogs sein, ist sich Herbert Karl von Beesten sicher. Der Eintritt zu der Veranstaltung ist frei, da der Blog und die Veranstaltung freundlicherweise vom Kulturbüro der Stadt Magdeburg, der WOBAU, der Stiftung Kloster Unser Lieben Frauen und dem Lions Club Kaiser Otto I. unterstützt wird.

Dienstag, 21. Mai 2024

# 052 Eine Klasse für sich - Natur oder Technik als Lehrmeisterinnen?

Was hat Stadtfeld-West (an der Schrote) mit Halle-Ost (an der Saale) zu tun?

Ich habe in den letzten Wochen zwei spezielle Klassenräume kennengelernt, die unterschiedlicher kaum sein können, aber doch etwas miteinander zu tun haben. Aber dazu später.

„Ottos grünes Klassenzimmer“

Anfang Mai traf ich Felix Bosdorf und weitere Mitglieder der Initiative „Otto pflanzt!“ e. V. in „Ottos grünem Klassenzimmer“. Ein ehemaliger Schulgarten in Stadtfeld West, zuletzt zu DDR-Zeiten bewirtschaftet. Nach dem Eintritt durch das offene Gartentor: Links und rechts wuchernde und schon voll im Saft stehende wild verwachsene Bäume und Sträucher. Mir fällt spontan „Grüne Hölle“ ein. Diese Bezeichnung wäre umso berechtigter, wenn man von den gepflegten Parkanlagen beiderseits der Schrote oder von der nüchternen Harsdorfer Straße in dieses vergessene Gartenreich kommt.  

Aber so möchte Felix das schätzungsweise vier- bis fünftausend Quadratmeter große Areal zwischen Schrote, Gartenparzellen des Kleingartenvereins „Eichelschanze“ und den Plätzen des Tennisklubs „Germania“, nicht genannt hören. „Hölle“ könnte negativ konnotiert sein, Kindern Angst machen, meint er. Was passt besser?, frage ich ihn. „Paradies?“, ist seine Idee? Vielleicht sogar „Green Paradise?“, lege ich nach. Nein, vom „Paradies“ möchte er doch Abstand nehmen. Also einigen wir uns auf „Grünes Klassenzimmer“, sollen hier doch ab dem nächsten Schuljahr Schüler und Schülerinnen der benachbarten Montessori-Schule mithelfen, diesen alten Garten zu wecken, ihn zu beleben ‒ und dabei gleichzeitig etwas lernen.

Birgit Habenicht in Aktion

Dafür wird im wahrsten Sinne des Wortes das (Lern)-Feld vorbereitet. Ich treffe auf Birgit Habenicht, Lehrerin im Ruhestand. Mit Arbeitshandschuhen, Schubkarre und Gartenschere ausgestattet, sucht sie Altholz und Baumschnitt zusammen, um damit ein Totholzbiotop anzureichern oder einen Flechtzaun weiterzubauen. Sie kann sich auch vorstellen, später im Garten dort die Kinder der Klassen eins bis vier im Garten zu betreuen. Von wegen Ruhestand! Später kommt Ralf Dounz-Weigt dazu, der dieses Areal entdeckt hat und über seine Verbindung zur Montessori-Schule den Lernort der besonderen Art anbieten möchte. 

Flechtzaum um einen Apfelbaum

„Otto pflanzt!“ hat sich noch viel mehr vorgenommen. Einige der 242.000 Bäume, die der Verein auch als Stadtwald-Projekt anpflanzen möchte, werden hier ihre Wurzeln schlagen, denn der alte Baumbestand soll durch junge Obstbäume ergänzt werden. So werden die Kinder mit den Bäumen aufwachsen, Apfel-, Birnen- und Beerensorten kennenlernen, eine Ahnung von dem Nutzen einer Streuobstwiese bekommen und begreifen, dass Apfel nicht gleich Apfel ist. Und: Wie sieht ein Johannisbeerstrauch aus? Was ist das für ein Kraut, warum gibt es mal mehr weiße, mal gelbe und dann wieder viele rote Blüten?  

Ist es nicht weltfremd, heutige Stadtkinder mit Gartenthemen von TikTok, dem Fernsehen und anderen kommerziellen Kids-Events weglocken zu wollen? Da sprechen die Erfahrungen eine andere Sprache, berichtete mir Felix. Die Gartenwelt kann für Kinder ein Abenteuerplatz sein, eine vertraute Wildnis, eine nützliche Ressource oder ein Versteckspiel-Dorado. Gerade diese natürliche Vielfalt, die sich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren hier entwickelt hat, sei besser als viele Social-Media-Klicks und Likes, wenn die Kinder das erstmal kennen- und liebengelernt haben. Innerhalb von Schulprojekten habe die „Otto pflanzt!“-Crew schon positive Erfahrungen gemacht, so dass neben Aktionen in der Schule die Kinder sogar in der Freizeit ihren Eltern mit Begeisterung beim Bäumepflanzen geholfen haben.

Unser Gespräch wird immer wieder von lautem Motorengeräusch gestört. Eine Motorsense als mechanische Machete, um Freiflächen für das grüne Klassenzimmer zu schaffen?, fährt mit durch den Kopf.

Brunnenloch mit Grundwasser

Es ist eine Motorpumpe, stellt sich heraus. Ein Mitarbeiter einer Brunnenfirma ist dabei, einen alten Grundwasserbrunnen zu reaktivieren. Ein Rohr steckt senkrecht in der Erde, einen halben Meter über und fünf, sechs Meter tief in der Erde. Tatsächlich, in circa 1,8 Meter Tiefe ist der Wasserspiegel zu erkennen. Der Brunnen ist ergiebig, das Wasser aus dem Pumpenschlauch wird gleich in große Tanks gefüllt, für trockene Zeiten. Felix, Birgit und Ralf stehen zusammen, ihre Freizeit- und Arbeitskleidung lässt sie zupackend aussehen. Sie freuen sich, dass der Brunnen funktioniert und so der Garten auch in Zukunft bewässert werden kann. Wie es im Sommer aussehen wird, bleibt allerdings fraglich. Die benachbarte Schrote war in den letzten Jahren im Hochsommer immer wieder trockengefallen. Das war, wie Felix es aus den Erzählungen seines Vaters kennt, seit 1968 bis Anfang der 2000er-Jahre nur einmal vorgekommen, aber in den Jahren danach schon dreimal, was auf einen heute deutlich niedrigeren Grundwasserstand hindeutet. Aber vielleicht genügen die fünf Meter Brunnentiefe, auch wenn die Ergiebigkeit geringer sein wird.

Felix Bosdorf - Birgit Habenicht - Mitarbeiter
der Pumpenfirma -Ralf Dounz-Weigt

Apropos Wasser. Ich hatte Felix bei meiner Lesung mit Gespräch zu meinem Intel-Blog am Tag vorher in der Stadtbibliothek kennengelernt, bei dem auch ein Gewässerbiologe als Fachmann zugegen war. Felix fiel mir zu dem umstrittenen Thema „Intel und der Wasserverbrauch“ als engagierter Disputant auf. Ich erinnere mich, dass der Biologe vom Helmholtz-Institut es nicht sehr kritisch sah, wenn das Wasser als Uferfiltrat der Elbe entnommen würde, denn der Schutz des Grundwassers sei von viel elementarer Bedeutung. Das könnte doch eine praktische Unterrichtseinheit im grünen Klassenzimmer werden, rege ich an.

Baumkunst der Crew "Fruchtschnitten" (Obstbaumbeschneider)

Im weiteren Gespräch wird deutlich, dass es sich bei dem Verein „Otto pflanzt!“ nicht um naive Gartentraumwandler handelt, sondern dass sie auch konstruktiv auf das Thema Technik und Natur eingehen. Wenn es sich abzeichnet, dass das Intel-Projekt im Sinne der Magdeburger Realität wird, dann wollen sie als Verein mithelfen, für die Natur und ihre Ressourcen das Beste daraus zu machen. Dies feststellend, gibt Felix gleich ein Beispiel: „Wir sind keine Technikverweigerer, sondern setzen mit den Kindern auch mal die Handy-App „Flora Incognita“ oder andere Apps mit KI-Funktionen ein, um Pflanzen zu identifizieren, um mehr über sie zu erfahren. Aber etwas exotisch wirkt für mich die Verstellung doch: Ein Handy mit KI-App in dieser grünen Naturvielfalt.

Bei meiner Recherche zu diesem Beitrag schaute ich mir auf der Webseite https://www.ad-magazin.de/artikel/pflanzen-apps noch andere Pflanzenerkennungs-Apps an, und, Zufall oder KI-Algorithmus, es poppte prompt eine Web-Anzeige von Intel mit www.jobs.intel.com.germany auf. 

„Classroom for the future“

Intel. Ich erinnere mich an eine Parallelwelt zu „Ottos grünem Klassenzimmer“, an meine Teilnahme an der feierlichen Eröffnung des „CLASSROOM OF THE FUTURE“ am 19. April 2024. Was gibt es da im Rückblick als grüne Brücke?

Ein amerikanisches Gemeinschaftsprojekt von Intel und seinem größten Kunden DELL im sachsen-anhaltischen Halle an der Saale. Der überfüllte große Veranstaltungsraum, vereinzelt von abgestandenen Gummibaum-Monokulturen flankiert. Dagegen dominierte bei den Ehrengästen, den Rednern und der Rednerin formaler Business-Dress. In den hinteren, gut besetzten Reihen und auf den Stehplätzen, augenscheinlich Teile der DELL-Belegschaft, überwog der Casual-Friday-Dresscode.

Veranstaltungsraum mit Gummibaumgrün

Durch ein Labyrinth von langen kahlen Fluren, ein nüchternes Treppenhaus und zu querenden Großraumbüros gelangte man nach dem offiziellen Teil zum „CLASSROOM OF THE FUTURE“. Es scheiterte der Versuch, die ca. 250 Personen aus dem Veranstaltungsraum in diesem ca. sechs mal zehn Meter großen Raum unterzubringen. Das Gedränge groß, so viele Menschen und Technik in einen Raum beeindruckend. Mehr „ging“ nicht. Schüler- oder Lehrerschwemme?

Hochbetrieb in der Zukunft des Klassenzimmers

Mittendrin Präsident und Minister, die sich von einer jungen Intel-DELL-Crew – dem „Team Wonderful“, wie auf den T-Shirts zu lesen war – zeigen ließ, was man schon gelernt hatte. Auf den Fotos, die ich gemacht habe, konnte ich später tatsächlich im Hintergrund die grünen Spitzen von ein paar Yucca-Büro-Palmen entdecken. Ich lernte, dass es kein Klassenraum für Schüler und Schülerinnen ist, sondern für Lehrer und Lehrerinnen. Sie sollen die Vielfalt des IT-Angebotes – alles im minimalistischen Design, in vornehmen Anthrazit- und matten Silbertönen – und dessen Einsatz und Möglichkeiten im späteren Unterricht in DELL-Seminaren kennen lernen. Also: „Train the trainer“, um mit deren Unterstützung die Hard- und Softwarekomponenten in möglichst viele „CLASSROOMs OF THE FUTURE“, in die „Fläche“ zu bringen.

Team "Wonderfull" im "CLASSROOM FOR THE FUTURE"

Der Kreis schließt sich zum Kreislauf

Kehren wir gedanklich wieder zurück nach Magdeburg, ins Stadtfeld, in Ottos grünes Klassenzimmer, zum Wasser, zum Grundwasser. Felix sprach davon, dass „Otto pflanzt!“ sich auf einen Aufruf von Intel hin beworben hat. Da sollten Vorschläge gemacht werden, wie Intel seine Wasserbilanz insgesamt so verbessern könnte, dass unterm Strich mehr Wasser dabei herauskommt als der Natur durch die Intel-Werke entzogen wird. Intel möchte bis 2030 „wasserpositiv“ werden, so ist das Ziel bestimmt. Es gab dazu eine Intel-Video-Call-Runde, an denen neben „Otto pflanzt!“ circa 30 Gruppen, NGOs und Initiativen aus ganz Deutschland beteiligt waren. Da wurden verschiedene Projektideen vorgestellt. Dabei ging es, wenn ich es richtig verstanden habe, um Kompensationsmaßnahmen – ähnlich, wie man durch Zertifikate seine CO₂-Bilanz verbessern kann – wie man mit (finanzieller?) Unterstützung von Intel Wasserreservoirs retten, schützen oder ausbauen kann. Intel möchte auch mit lokalen Initiativen zusammenarbeiten, die zum Beispiel dazu beitragen, den Grundwasserspiegel zu erhöhen. Der Vorschlag von „Otto pflanzt!“ war, so erinnert sich Felix, mit Bäumen und Wäldern positiv auf die Wasserbilanz in der Region einzuwirken. Was aus der Zusammenarbeit mit Intel wird, ist noch nicht klar. Das Auswahlverfahren der Projekte läuft noch.

Felix am Grundwasserbrunnen

Wer weiß, vielleicht werden die heutigen Kinder in „Ottos grünem Klassenzimmer“ durch die dortige Natur sensibilisiert, bringen mehr Grün in die „CLASSROOMs OF THE FUTURE“, um dann durch KI motiviert, anschließend ein Studium der Biologie oder Sustainable Resources oder Advanced Semiconductor Nanotechnologies zu absolvieren. Und werden später Intel-Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter. Und wenn sie in zwanzig, dreißig Jahren im Hochsommer, nach Feierabend von Intel kommend, entlang der Schrote zurück in ihr Stadtfeld fahren, Felix im grünen Klassenzimmer zuwinken und feststellen, dass die Schrote trotz längerer Trockenheit auf natürliche Weise doch noch immer Wasser führt, dann haben sie (wir?) vielleicht vieles richtig gemacht.

Für mich bleibt die Frage: Wer braucht wen mehr? „Otto pflanzt!“ Intel? Oder Intel „Otto pflanzt!“?

Informationen zu „Otto pflanzt!“ e. V. und „Ottos grünem Klassenzimmer“ finden Sie unter www.ottopflanzt.de. Der Verein freut sich über ehrenamtliche Mithilfe.

Samstag, 11. Mai 2024

# 051 b „K wie Karambolage“ - Ein VR-Movie - (gekürzte Lese-Fassung)

Ich hatte mich gleich bereit erklärt, den Ortstermin wahrzunehmen. Es passte in meinen Plan, von Prag aus auf seinen Spuren zu wandeln und seine Reisen nachzuvollziehen. Magdeburg lag schon auf halber Strecke zur Insel Norderney, aber das behielt ich für mich. Dorthin hatte K. als junger Mann allein seine erste Reise unternommen. War er auch über Magdeburg gefahren, um sich dort über Fragen der Arbeitssicherheit zu informieren? Magdeburg war damals neben Böhmen ein wichtiges Industriezentrum.

Seit einiger Zeit mehrten sich die Anfragen von meinen tschechischen Landsleuten, ob unsere Versicherungs-Policen auch gelten, wenn man auf dieser Baustelle in Deutschland arbeiten und in Magdeburg leben würde. Dort sollte etwas Neues entstehen: Riesige Giga-Chip-Fabs.

„Wir müssen uns den neuen Technologien stellen, Umfeld und Risiken ausleuchten und vor allem die Rolle der KI begreifen“, verkündigte ich den Herren Direktoren. Denen gefiel das: „Da müssen jetzt die jungen Leute ran, das ist die Zukunft, also los!“, hieß es.

Jung war ich. Ich sprach auch Deutsch. Die Herren waren so gut gelaunt, dass ich ein paar Urlaubstage anhängen durfte. Beim Umstieg in Dresden kaufte ich die aktuelle „Süddeutsche“ und das „Handelsblatt“. Für meine Recherchen hatte ich auf meinem Notebook den Abo-Zugang zur „Magdeburger Volksstimme“, die ich im  ICE nach Leipzig durchforstete, Stichwort „Intel“.

Für den Zwischenstopp in Leipzig, der Stadt der Bücher, wollte ich mir etwas Zeit nehmen, um auf seinen Spuren zu wandeln, die in Prag schon zu ausgetreten waren. In Leipzig hatte er die ersten Verleger für „Die Verwandlung“ und „Das Urteil“ gefunden. Die Cafés und Kneipen, in denen er damals verkehrte, gab es nicht mehr. Vielleicht aber noch einen anderen, in seinem Tagebuch mit „B“ verklausulierten Ort. Das führte meine Überlegungen wieder zurück zu meinem Auftrag: Bis zu siebentausend Bauleute, überwiegend Männer, über Jahre in Magdeburg, hatte ich gelesen. Da könnten sich auch im Umfeld von „B“ Versicherungsfälle ergeben.

Das nasskalte Wetter trieb mich früher als gedacht zum Bahnhof zurück. Seine monumentale Fassade ragte in der Dämmerung bedrohlich auf, verwandelte sich aber dahinter in die Glitzerwelt eines tiefgründigen Promenaden-Bahnhofs, in die ich hinabstieg.

Da fiel mir eine  Frau auf, die mich an Miluška erinnerte. Ich hätte sie aber niemals angesprochen, als sie mir, mit seltsam angehobenem Haupt, in der Einkaufspassage entgegenkam, direkt auf mich zu. Ich stoppte. Sie lief weiter, touchierte mich an der linken Schulter, änderte darauf ruckartig die Richtung und stieß mit dem Knie einen Werbeaufsteller um. Sie blieb wie erstarrt stehen, als wenn jemand plötzlich „Freeze!“ kommandiert hätte. Ich war mit ein paar Schritten bei ihr. Sie war nicht ansprechbar. Ein Schock? Wir schauten uns an, aber sie war wie in einer anderen Welt und kam nur langsam zu sich, sagte kein Wort. Sie fing an, mich zu berühren, drückte mit flachen Händen gegen meine Brust, packte mich an beiden Schultern und schüttelte mich, zuerst vorsichtig, dann kräftiger. Ich war irritiert, wir kannten uns nicht, mir fehlten auch die Worte.

„Sie sind ja echt …“, stammelte sie, etwas ungläubig, als wäre ich ein Geist aus dem letzten Jahrhundert. „Wirklich echt!“ rief sie, ließ mich los und tastete mit beiden Händen ihr Gesicht ab, als suche sie etwas. Die Starre in ihrem Gesicht war einem leichten Lachen gewichen. Sie drehte sich um und ging, leicht humpelnd, in die Richtung, aus der sie gekommen war. Ich blieb starr stehen, ging erst nach einer Weile zum Bahnsteig.

Kein ICE nach Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt? Im IC, der Norddeich-Mole, den Fähranleger nach Norderney, als Endstation auf der Anzeigentafel auswies, vertiefte ich mich wieder in mein Recherchematerial. Erst die Arbeit, dann das heimliche Ziel.

Richtig voll wurde der Zug in Halle. Ein älterer Herr fragte höflich: „Sorry, ist der Platz neben Ihnen noch frei?“. Ich räumte meinen Rucksack weg. Der Mann streckte sein linkes Bein vorsichtig in den Gang aus. Es ließ sich nicht vermeiden, dass er zusah, wie ich die verschiedenen Zeitungsartikel auf dem Laptop-Bildschirm aufrief. Ungeniert verfolgte er alles. Selbst als ich mich demonstrativ zurücklehnte, die Arme vor der Brust verschränkte, ihn direkt ansah, beugte sich der ungebetene Mitleser vor, um auch noch die letzten Details auf dem meinem Bildschirm zu erkennen.

„Soll ich es Ihnen noch etwas vergrößern?“, fragte ich laut genug, dass einige der Umsitzenden aus ihrem Dämmern mit einem kaum wahrnehmbaren Ruck auffuhren.

„Entschuldigen Sie, ich weiß, das ist nicht höflich, ich war so überrascht, aber ich befasse mich auch gerade mit Intel“.

„Meine Befassung mit dem Thema ist vertraulich, wenn Sie wissen, wie ich das meine.“

„Wissen Sie, was ich gerade erlebt habe?“

Wusste ich nicht, aber dass es mit meiner beschaulichen Recherchearbeit zu Ende war, das wusste ich. „Was denn?“

„Ich möchte nicht stören. Machen Sie ruhig weiter“.

„Und was haben Sie erlebt?“, wandte ich mich ihm zu und signalisierte damit, dass ich bereit wäre, ihm zuzuhören. Vielleicht konnte ich meine Recherchen so fortsetzen.

„Das hätten Sie sehen müssen, bei DELL, vom Polylux zum Ätsch -Em-Di.“

„DELL … Poly… was?“

„DELL, der Computerhersteller, der mit Intel zusammenarbeitet, hat in Halle eine große Niederlassung.“

„Ach so, wusste ich nicht. Und was ist Poly-Jux?“

„Lux. Polylux. Den hatte man früher in den Schulen, man schrieb mit Stiften auf eine Folie, das Bild wurde dann an die Wand projiziert.“

„Ach so, Sie meinen wahrscheinlich einen Overhead-Projektor!“

„Sie kommen wohl nicht von hier, was?“

„Nein. Und wie hieß das andere? Ätsch-Em-Di? Mein Deutsch ist nicht so gut.“

„Das ist ja auch Amerikanisch. Die drei Buchstaben HMD stehen für Head-Mounted-Display.“

„Kenn ich nicht.“

„Man sagt auch VR-Brille dazu, VR für Virtuelle Realität“, belehrte mich mein Sitznachbar.

„Ah, Virtual-Reality, das habe ich schon mal gehört.“

„Also, die haben da den Klassenraum der Zukunft, alles elektronisch, der ganze Raum voller Computer, große und kleine Bildschirme, vor allem große und ganz große, und Kameras, die alles übertragen, für Webkonferenzen. Unser Ministerpräsident, der Wirtschaftsminister und die Geschäftsführer von Deutschland waren da. Ich sage Ihnen, die haben alle Register gezogen.“

„Und wer sind ‚die‘?“

„Intel und DELL!“

„Ah, jetzt verstehe ich: Intel, wohl unser gemeinsames Thema. Und der Bundeskanzler war da?“

„Der Bundeskanzler? Nein.“

„Sie sagten doch ‚Geschäftsführer von Deutschland‘.“

„Nein, ich meinte die Geschäftsführer von DELL Deutschland und die Geschäftsführerin von Intel Deutschland!“

„Und was haben Sie da gemacht?“

„Heute war doch die offizielle Eröffnung des ‚Classroom of the Future‘. Ich war auch eingeladen. Habe mir dann auch eine VR-Brille aufgesetzt und sie getestet.“

Kurz kam mir der boshafte Gedanke, ob man ihn als Repräsentanten von „Oma und Opas for Future“ eingeladen hatte. „Und wie war‘s?“

„Unglaublich, als wenn man in einer anderen Welt wäre, so realistisch durch die 3-D-Technik. Ich habe eine kleine Fabrik gebaut und simuliert. Eine virtuelle Trainerin gab mir am Ende die Anweisung, auf den KI-Knopf zu drücken und dann …“, er strich dabei über sein im Gang ausgestrecktes Bein und kniff die Augen dabei etwas zu.

 „Und dann?“

„Dann musste ich so einem Roboter aus dem Weg gehen, ganz schnell, und schon tat‘s richtig weh.“

„Mhhh … verstehe. Der Roboter hat Sie erwischt.“

„Dem konnte ich noch ausweichen, weil der Avatar in der VR-Welt ‒ oder sagt man die Avatarin? ‒ egal, ‒ mich warnte. Dann bin ich gerannt, in Echt, hatte aber nicht bedacht, dass ja eigentlich nichts passieren konnte, es war ja alles nur virtuell.“

„Ich verstehe. Ihr Bein?“

„Ja, da stand in der Realität ein Stuhl im Weg und ich dann voll … Oh, Mann … hier genau, an dieser Stelle“. Er zeigte mir die Stelle des Grenzkonfliktes zwischen Virtualität und Realität. „Ich habe mich dann gleich entschuldigt.“

„Beim Stuhl?“

„Nein. Auf dem Stuhl saß eine junge Frau. Ihr ist aber nichts passiert, bis auf den Schreck. Aber wir haben uns nach meiner Verarztung noch nett unterhalten. Sie ist Professorin am hallischen Fraunhofer Institut für Mikrostrukturen, thematisch sehr nah an dem Intel-Thema dran, näher als die Forschungsinstitute in Magdeburg. Darf man in Magdeburg aber nicht so laut sagen.“

„In dem Raum der Zukunft werden Schulklassen unterrichtet?“

„Nicht direkt. Es ist für Lehrer und Lehrerinnen aus der Region, für ‚Learning by doing‘ Aktionen, damit sie wissen, was es alles gibt und was sie in der Schule gebrauchen könnten.“

„Hört sich auch nach ‚Showroom‘ an, also ‘Verkaufsraum‘.“

„Stimmt. Jemand sprach davon, dass dieser ‚Digitalpakt Schule‘ noch bis Ende 2024 läuft, und die Gelder noch nicht ausgeschöpft wären.“

Mein lädierter Sitznachbar erhob sich vorsichtig. „Wir sind gleich in Magdeburg, ich muss da raus. Fahren Sie weiter?“

„Heute noch nicht, ich steige auch aus und schaue mir ein paar Tage Magdeburg an. Mich interessieren die Risiken durch die Verwandlung von Magdeburg infolge der Intel-Ansiedlung. Was das mit den Leuten macht, auch mit den Arbeitern und Arbeiterinnen aus dem Ausland. Welche Risiken oder Probleme sehen Sie denn für die Beschäftigten im Zuge der Intel-Ansiedlung?“

„Was meinen Sie mit ‚Ausland‘?“

„Tschechien.“

„Ach so, Tschechien. Da sehe ich kein so großes Risiko. Aber warten wir die nächsten Wahlergebnisse ab.“

„Sie scheinen sich hier ja gut auszukennen.“

„Oh, da kann ich Ihnen einiges erzählen.“

Da musste ich zufassen: „Schön, dann könnten wir uns vielleicht mal bei einem Kaffee treffen und Sie erzählen mir einiges, auch wie das genau ablief, mit Ihrer realen Verletzung durch VR und KI. Was hätten Sie denn gemacht, wenn die Verletzung schlimmer gewesen wäre? Welche Versicherung wäre dann der Kostenträger für die Behandlung und die Reha gewesen?“

„Also, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.“

„Sehen Sie, das ist mein Job. Daraus kann sich nämlich schnell ein vertrackter Prozess vor Gericht ergeben.“

Wir trafen uns mehrmals. Es wurde vertrauter, wir kamen zum Du, und ich konnte endlich meine Fragen beim Bier im M2 am Hasselbachplatz anbringen:

„Jan“, fragte ich ihn, „ich habe so viel Widersprüchliches gelesen: In der ‚Volksstimme‘ viel Jubel, dann wieder Wasser- und Bodenzweifel, in der ‚Süddeutschen‘ wird das Magdeburger Projekt verglichen mit den neuen Chip-Projekten in Dresden, München und im Saarland, die mehr Sinn machen würden. Joachim Hofer vom ‚Handelsblatt‘ rät Intel, sich diese Investition in Magdeburg zu sparen. Dann heißt es in der ‚Volksstimme‘, dass eigentlich alles in trockenen Tüchern wäre. Aber auf Seite eins, dass Intel hohe Verluste gemacht hat und auch in Zukunft machen wird. Wie passt das alles zusammen?“

Jan reagierte nicht, war offenbar in Gedanken versunken. So setzte ich fort:

„Und wie passt dazu, wie bei LinkedIn zu lesen ist, dass Intel in andere Werke allein 100 Milliarden Dollar investiert? Ist das nicht zu viel des Guten? Spuren von Selbstzweifel sehe ich aber bei Intel nicht. Wird dir da nicht angst und bange um deine Giga-Chip-Fab?“

„Also, erst einmal, lieber Václav, ist das nicht ‚meine‘ Chip-Fab. Selbstzweifel kann ich auch bei den hiesigen Wirtschafts- und Politikleuten nicht entdecken. Du musst die Meldungen und Artikel genau lesen. Dann löst sich der eine oder andere Widerspruch auf. Vielleicht.“

„Jan, ich brauche Fakten für meine Risikobeurteilung!“

„Abwarten kann ich nur sagen, abwarten und noch ein Bier trinken.“

„Aber ich will doch weiter, weiter, auf den Spuren von K.“

„Meinst du Josef K.? Kafka?“

„Genau. Ich versuche, auf seinen Spuren zu wandeln. Aber dass die Intel-Sache hier für mich so verworren und unübersichtlich wird, mich so lange aufhält, das hatte ich nicht erwartet. Was soll ich denn nach Prag berichten?“

„Sag doch, du hättest einen Guide, einen Aufpasser, der dich daran hindert, zum Kern der Sache vorzustoßen, dass du nicht den Mut aufbringst, selbst der Sache auf den Grund zu gehen. Dass das wahrscheinlich im Hintergrund von langer Hand eingefädelt worden und dass die Begegnung im Zug möglicherweise kein Zufall gewesen sei. Der Aufpasser tue nur so, als ob er alles wisse, verweist auf die Zeremonienmeister der Stadt, der Regierung, an die er dich aber nicht herankommen lässt. Dass du dir aber auch nicht sicher bist, ob der Guide sie tatsächlich kennt. Sag, du brauchtest deswegen noch Zeit.“

„Die halten mich in Prag doch für verrückt!“

„Bist du ja auch, vielleicht, ein bisschen.“

„Jan, mal ehrlich: Unser Treffen im Zug war nicht zufällig?“

„Václav, jetzt bist du wirklich verrückt! Gleich behauptest du noch, dass der Zug geheime Abteile hatte, wo man Intel-Erlaubnisscheine holen musste.“

„Das ist mir zu viel. Erlaubnisscheine. Aufpasser. Ich muss jetzt ins Hotel, morgen gehts sehr früh weiter.“

„Stimmt, ja, nach Norderney.“

Im Hotel konnte ich nicht einschlafen und wanderte durchs Zimmer. Ich fühlte mich beobachtet und manipuliert. Ich hatte mit Jan über mein Reiseziel an der Nordsee gesprochen. Er schwärmte allerdings von der Ostseeküste. Ich recherchierte: K. war tatsächlich auch an der Ostsee gewesen! Ich buchte um.

Ich musste grinsen, als ich mir am nächsten Morgen im fast leeren Zug Richtung Ostsee vorstellte, wie Jan mich vergeblich im Zug nach Norddeich-Mole suchen würde, um mich „rein zufällig“ zu treffen.

Im Schwebezustand zwischen Denken und Dämmern fuhr ich dahin, machte schon Pläne, wie ich am nächsten Tag an der Seebrücke Graal-Müritz in Erinnerungen an K. versinken würde, als jemand freundlich fragte: „Sorry, ist der Platz neben Ihnen noch frei?“

Freitag, 10. Mai 2024

# 051a "K wie Karambolage"- Ein VR Movie

Ich hatte mich gleich bereit erklärt, den Ortstermin wahrzunehmen. Es passte in meinen Plan, von Prag aus auf seinen Spuren zu wandeln, nach und nach seine Reisen nachzuvollziehen. Magdeburg lag schon auf halber Strecke zur Insel Norderney, aber das behielt ich für mich. Dorthin hatte K. als junger Mann seine erste Reise unternommen. War er auch mit der Eisenbahn über Magdeburg gefahren, um sich dort über Fragen der Arbeitssicherheit zu informieren? Magdeburg war damals neben Böhmen ein wichtiges Industriezentrum.

Seit einiger Zeit häuften sich die Anfragen von meinen tschechischen Landsleuten, ob unser Schutz für die verschiedenen Policen auch gelte, wenn man für ein paar Jahre auf dieser Baustelle in Deutschland arbeiten und zugleich in Magdeburg leben würde. Dort sollte etwas Neues entstehen: Riesige Computerchip-Fabriken, Giga-Chip-Fabs. Kamen da neue Risiken auf unsere Versicherung zu?

Wandbild auf dem Weg von DELL
zum Hbf Halle (Saale)

„Wir müssen uns den neuen Technologien stellen, deren Umfeld und Risiken ausleuchten und vor allem die Rolle der KI begreifen“, verkündigte ich den Herren Direktoren. Denen gefiel das: „Da müssen jetzt die jungen Leute ran, das ist die Zukunft, also los!“, hieß es. Die Herren waren nun so gut gelaunt, dass ich ein paar Urlaubstage anhängen durfte.   

Jung war ich. Ich sprach auch Deutsch, in der Schule auf nachdrückliches Anraten meines Vaters gelernt. Beim Umstieg in Dresden kaufte ich die aktuelle „Süddeutsche“ und das „Handelsblatt“. Für meine Recherchen hatte ich auf meinem Notebook schon ältere Ausgaben der beiden Zeitungen sowie meinen Abo-Zugang zum E-Paper der „Magdeburger Volksstimme“, die ich im ICE nach Leipzig nach „Intel“ durchforstete. Mir fiel dabei zum ersten Mal bewusst das kleine, silbern glänzende Label neben meiner Notebook-Tastatur auf: „intel CORE i7 10TH GEN“, obwohl es dort schon seit zwei Jahren kleben musste.

Für den Zwischenstopp in Leipzig, der Stadt der Bücher, wollte ich mir etwas Zeit nehmen, um auf seinen Spuren zu wandeln, die in Prag schon zu ausgetreten waren. In Leipzig hatte er die ersten Verleger für „Die Verwandlung“ und „Das Urteil“ gefunden. Die Cafés und Kneipen, die damals seine Treffpunkte mit Ernst Rowohlt und Kurt Wolff waren, gab es nicht mehr. Vielleicht aber noch einen anderen, in seinem Tagebuch verschlüsselt mit „B“ nicht genau bezeichneten Verweilort. Das führte meine Überlegungen wieder zu meinem Auftrag zurück: Bis zu siebentausend Bauarbeiter, überwiegend Männer, über Jahre in Magdeburg, hatte ich gelesen. Zum Risiko der Transformation wird auch das Thema „B“ gehören. Da können und werden Unfälle und Zusammenstöße passieren.

Das nasskalte Wetter trieb mich früher als gedacht zum Kopfbahnhof zurück. Die monumentale Fassade ragte in der Dämmerung bedrohlich auf, verwandelte sich aber dahinter in die Glitzerwelt eines tiefgründigen Promenaden-Bahnhofs.

Ich hatte noch etwas Zeit, in der unterirdischen Geschäftswelt zu flanieren und einer meiner Lieblingsbeschäftigungen nachzugehen dem Beobachten von Menschen. Mir fiel gleich eine interessante Frau auf, die mich an Miluška, erinnerte. Nordisch kühl, mit pechschwarzen aufgesteckten Haaren, eine, die weiß, was sie will. Ich hätte sie aber niemals angesprochen, als sie mir mit seltsam angehobenem Haupt in der Einkaufspassage entgegenkam. Plötzlich änderte sie ihre Richtung, ging auf mich zu. Ich stoppte. Sie lief weiter. Ich trat im letzten Moment zur Seite. Zu spät. Sie touchierte mich an der linken Schulter, änderte darauf die Richtung und stieß mit dem Knie krachend einen Werbeaufsteller um. Sie blieb wie erstarrt stehen, als wenn jemand „Freeze!“ kommandiert hätte. Ich war in ein paar Schritten bei ihr. Sie war nicht ansprechbar. Ein Schock? Ein Blickkontakt stellte sich erst allmählich ein. Wir schauten uns zwar an, aber sie war wie in einer anderen Welt und kam nur langsam zu sich, sagte kein Wort. Sie fing an, mich anzufassen, drücke mit flachen Händen gegen meine Brust, packte mich an beiden Schultern und schüttelte mich, zuerst vorsichtig, dann kräftiger, dann wieder langsam wiegend, als ob sie mein Gewicht schätzen wollte. Ich war irritiert, wir kannten uns nicht, fand es „übergriffig“, aber mir fehlten auch die Worte.

„Sie sind ja echt …“, stammelte sie, ihr Blick war jetzt auf mich gerichtet, etwas ungläubig, als wenn ich ein Geist aus dem letzten Jahrhundert wäre. „Sie sind ja echt!“, rief sie, „wirklich echt!“ Sie ließ mich los und tastete mit beiden Händen ihren Kopf, ihr Gesicht ab, als wenn sie etwas suchte. Die Starre war in ihrem Gesicht einem freien Lachen gewichen, als wenn sie etwas begriffen hätte. Sie drehte sich weg und rannte, leicht humpelnd, in die Richtung, aus der sie gekommen war. Ich sah kurz Ihren schönen Nacken. Sie verschwand. Schade.

Kein ICE in Richtung Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt? Im IC nach Magdeburg, der schon Norddeich-Mole, den Fähranleger nach Norderney, als Endstation auf der Anzeigentafel auswies, vertiefte ich mich wieder in mein Recherchematerial. Erst die Arbeit, dann das heimliche Ziel. So konnte ich trotz der vielen Mitreisenden ganz für mich sein.

Richtig voll wurde der Zug in Halle, fast bis auf den letzten Platz. Ein älterer Herr fragte höflich, aber bestimmt: „Sorry, ist der Platz neben Ihnen noch frei?“, sodass ich meinen Rucksack von dort wegnahm. Er streckte sein linkes Bein vorsichtig in den Gang und stöhnte dabei, den Kopf schüttelnd. Ein wenig zu laut, wie ich fand. Ob von ihm beabsichtigt oder nicht: Es ließ sich nicht vermeiden, dass er zusah, wie ich die verschiedenen Zeitungsartikel auf dem Laptop-Bildschirm aufrief. Ungeniert verfolgte er alles. Selbst als ich mich demonstrativ zurücklehnte, die Arme vor der Brust verschränkte, ihn direkt und ernst ansah, bewirkte dies nur, dass der ungebetene Mitleser sich zu meinem Computer vorbeugte, seine Brille aufsetzte, um wohl auch noch die letzten Feinheiten erkennen zu können.

„Soll ich es für Sie noch etwas vergrößern?“, fragte ich etwas scharf und laut genug, sodass einige der Umsitzenden aus ihrem Dämmern mit einem kaum wahrnehmbaren Ruck auffuhren.

„Entschuldigen Sie, sorry, ich weiß, das ist nicht höflich, ich war so überrascht, aber ich befasse mich gerade viel mit Intel, und, wie ich sehe, Sie auch?“

„Meine Befassung mit dem Thema ist beruflicher Natur. Vertraulich, wenn Sie wissen, wie ich das meine.“

„Ich glaubte, gleich eine Ahnung zu haben, als ich den freien Platz neben Ihnen entdeckte“, sagte er, gerade so laut, dass ihm auch die Aufmerksamkeit der anderen gewiss war.

„Eine Ahnung?“

„Wissen Sie, was ich gerade erlebt habe?“

Wusste ich nicht, aber dass es mit meiner beschauliche Recherchearbeit zu Ende war, das wusste ich und klappte mein Notebook zu. „Was denn?“, fragte ich, nun in einem etwas mehr interessierten und leiseren Tonfall.

„Ich möchte nicht stören. Machen Sie ruhig weiter“. Er war auch leiser geworden, sodass bei   Sitznachbarn die Lider wieder schwerer wurden und sie sich wieder dem Dösen hingaben.

„Und was haben Sie erlebt?“, wandte ich mich ihm zu und signalisierte mit einer auffordernden Geste, dass ich bereit wäre, ihm, dem Ahnungsvollen, zuzuhören. Vielleicht konnte ich meine Recherchen auf eine andere Art fortsetzen.

„Das hätten Sie sehen müssen, bei DELL, vom Polylux zum Ätsch -Em-Di.“

„DELL … Poly… was?“

„DELL, der amerikanische Computerhersteller, der mit Intel zusammenarbeitet, hat in Halle eine große Niederlassung.“

„Ach so, wusste ich nicht.“ Unauffällig verdeckte ich mit meiner Hand das DELL-Logo meines Notebooks und lenkte ab: Und was ist noch mal Poly-Jux?“

„Lux. Polylux. Den hatte man früher in den Schulen, man schrieb mit Stiften auf eine Folie, das Bild wurde dann an die Wand projiziert.“

„Ach so, Sie meinen wahrscheinlich einen Overhead-Projektor!“

„Sie kommen wohl nicht von hier, was?“

„Nein. Und wie hieß das andere? Ätsch-Em-Di? Mein Deutsch ist nicht so gut.“

„Das ist ja auch Amerikanisch. Die drei Buchstaben HMD für Head-Mounted-Display.“

„Kenn ich nicht.“

„Man sagt auch VR-Brille dazu, VR für Virtual-Reality“, belehrte mich mein Sitznachbar, tastete dabei sein linkes Schienbein ab und verzog das Gesicht schmerzlich.

„Ah, Virtual-Reality, das habe ich schon mal gehört oder im Internet gesehen.“

„Also, die haben da den Klassenraum der Zukunft eröffnet, alles elektronisch, der ganze Raum voller Computer, große und kleine, Bildschirme, vor allem große und ganz große, und Kameras, überall, die alles übertragen für Webkonferenzen zwischen Lernenden und Lehrenden. Unser Ministerpräsident, der Wirtschaftsminister und die Geschäftsführer von Deutschland waren da. Insgesamt bestimmt 250 Personen. Ich sage Ihnen, die haben alle Register gezogen, ich bin jetzt noch richtig erschlagen.“

„Und wer sind ‚die‘?“, versuchte ich ihn daran zu erinnern, dass ich neben ihm saß.

„Intel und DELL!“

„Ah, jetzt verstehe ich: Intel auch. Unser gemeinsames Thema. Und der Bundeskanzler war da?“

„Der Bundeskanzler? Nein.“

„Sie sagten doch ‚Geschäftsführer von Deutschland‘.“

„Nein, ich meinte die Geschäftsführer von DELL Deutschland und die Geschäftsführerin von Intel Deutschland!“

„Und was haben Sie da gemacht?“

„Heute war doch die offizielle Eröffnung des ‚Classroom of the Future‘. Gäste aus Politik, Wirtschaft und Medien. Ich war auch eingeladen.“ Dabei zelebrierte der euphorisierte und wieder aufdringlicher werdende Mitreisende einen Augenaufschlag, den man fast klappern hören konnte und setzte fort: „Ich habe dann auch die VR-Brille aufgesetzt und etwas probiert.“

Kurz kam mir der Gedanke, dass man ihn als Repräsentanten von „Oma und Opas for Future“ eingeladen haben könnte. Aber die Bemerkung verkniff ich mir. „Und wie war‘s?“

„Unglaublich, als wenn man wirklich in einer anderen Welt wäre, so realistisch durch die 3-D-Technik. Ich habe eine kleine Fabrik gebaut und gleich simuliert. Eine virtuelle Trainerin gab mir am Schluss die Anweisung, auf den virtuellen KI-Knopf zu drücken und dann …“, er strich dabei über sein im Gang ausgestrecktes Bein, kniff die Augen etwas zu.

 Und dann?“

„Dann musste ich so einem fahrenden Roboter aus dem Weg gehen, ganz schnell, und schon tat‘s richtig weh.“

„Der Roboter hat Sie erwischt?“

„Da konnte ich noch ausweichen, weil diese nette Trainerin, also der Avatar in der VR-Welt ‒ oder sagt man die Avatarin? ‒ egal ‒ mich warnte und mir die Fluchtrichtung anzeigte. Dahin bin ich gerannt, in Echt, hatte in dem Moment nicht bedacht, dass ja eigentlich nichts passieren konnte, es war ja alles nur virtuell, nicht echt.“

„Ich verstehe. Ihr Bein?“

„Ja, da stand in der Realität ein Stuhl im Weg und ich dann voll … Oh, Mann … hier genau, an dieser Stelle“. Meine Zufallsbekanntschaft hob sein Bein, um mir exakt die Stelle des Grenzkonfliktes zwischen Virtualität und Realität zu zeigen und setzte fort: „Ich habe mich dann gleich entschuldigt.“

„Beim Stuhl?“

„Nein. Auf dem Stuhl saß eine junge Frau. Ihr ist aber nichts passiert, bis auf den Schreck. Aber wir haben uns nach meiner Verarztung noch nett unterhalten. Sie ist Professorin am hallischen Fraunhofer Institut für Mikrostrukturen, thematisch nah an dem Intel-Thema dran, näher als die Forschungsinstitute in Magdeburg. Darf man in Magdeburg aber nicht so laut sagen.“

„Und die Frau wollte auch den ‚Classroom for the future‘ nutzen?“, insistierte ich, bevor er wieder abschweifen konnte.

„Es war schon beeindruckend zu sehen, was da auf unsere Schulen zukommt.“

„In dem Raum werden jetzt Schulklassen unterrichtet?“

„Nicht direkt. Es ist ein Raum für Lehrer und Lehrerinnen aus der Region für ‚Learning by doing‘, damit sie wissen, was es alles gibt und was sie in der Schule gebrauchen könnten. Sie lernen, um dann besser als die Schüler und Schülerinnen in den oberen Klassen oder in der Berufsschule mit der Hard- und Software umgehen zu können.“

„Hört sich auch etwas nach ‚Showroom‘ an, auf Deutsch: ‘Verkaufsraum‘.“

„Mag sein. Ja, stimmt. Jemand sprach davon, dass dieser ‚Digitalpakt Schule‘ noch bis Ende 2024 läuft, und die Gelder noch nicht ausgeschöpft wären.“

Einige Fahrgäste wurden unruhig, und mein lädierter Sitznachbar erhob sich vorsichtig. „Wir sind gleich in Magdeburg, ich muss da raus. Fahren Sie weiter?“

„Heute noch nicht, ich steige auch aus und schaue mir Magdeburg ein paar Tage an. Mich interessiert die Verwandlung von Magdeburg im Rahmen des zu erwartenden Transformationsprozesses durch die Intel-Ansiedlung. Was das mit den Leuten hier macht, auch mit den Arbeitern und Arbeiterinnen aus dem Ausland während der Bauphase. Welche Risiken oder Probleme sehen Sie für die Beschäftigten im Zuge der Intel-Ansiedlung?“

„Was meinen Sie mit Ausland?“

„Tschechien.“

„Ach so, Tschechien. Da sehe ich kein so großes Risiko. Aber warten wir die nächsten Wahlergebnisse ab.“

„Sie scheinen sich hier ja gut auszukennen. Auch mit Intel, sagten Sie?“

„Oh, da kann ich Ihnen einiges erzählen.“

Da musste ich zufassen: „Schön, dann könnten wir uns vielleicht mal bei einem Kaffee treffen und Sie erzählen mir einiges, auch wie das genau war, mit Ihrer realen Verletzung durch VR und KI. Was hätten Sie gemacht, wenn die Verletzung schlimmer gewesen wäre? Welche Versicherung wäre dann der Kostenträger für die Behandlung und die Reha gewesen?“

„Also, darüber habe ich noch nie nachgedacht.“

„Sehen Sie, das zu klären, ist nun mein Job. Da kann schnell ein vertrackter Prozess anhängig werden.“

Wir trafen uns mehrmals in den nächsten Tagen. Es wurde vertrauter, wir kamen zum Du, und ich konnte die in mir angestauten Fragen beim Bier im M2 am Hasselbachplatz anbringen:

„Jan, ich habe so viel Widersprüchliches gelesen: In der ‚Volksstimme‘ viel Jubel, dann wieder Wasser- und Bodenzweifel, in der ‚Süddeutschen‘ wird das Magdeburger Projekt verglichen mit den neuen Chip-Projekten in Dresden, München und im Saarland, die wohl näher am deutschen Markt sind und deswegen mehr Sinn machen. Joachim Hofer vom ‚Handelsblatt‘, der scheint ja ein internationaler Halbleiter-Spezialist zu sein und müsste es wissen, rät Intel, sich diese Investition in Magdeburg zu sparen, weil sie sich wirtschaftlich nicht rechnen würde. Dann bin ich wieder auf mehrere ‚Volksstimme‘-Artikel von vor einigen Monaten gestoßen, in denen es hieß, dass eigentlich alles in trockenen Tüchern wäre. Dann vor kurzem nicht nur in der ‚Volksstimme‘, aber da auf Seite eins, die Hiobsbotschaft, dass Intel in der Vergangenheit hohe Verluste gemacht hat und auch in Zukunft machen wird. Wie passt das alles zusammen?“

Jan reagierte nicht, er dachte wohl nach, und nachdem ich wieder zu Atem gekommen war, setzte ich fort: „Und wie passt dazu, dass die Intel-Kollegen die 10 großen Neubauprojekte neulich bei LinkedIn schön säuberlich aufgelistet gesehen haben, darunter auch Magdeburg, und so auf insgesamt über 100 Milliarden Dollar Investition kommen? Da schwebt für mich doch ein Fragezeichen über allem, ob das nicht zu viel des Guten ist. Spuren von Selbstzweifel sehe ich bei Intel aber nicht. Wird dir da nicht angst und bange um deine schöne, ambitionierte Giga-Chip-Fab hier? In Frankfurt/Oder wurde schon mal ein Intel-Projekt in den brandenburgischen Sand gesetzt, obwohl das Gebäude schon stand, weil eine öffentliche Bürgschaft nicht rechtzeitig kam, das kannst du nachlesen.“

„Also, erstmal, lieber Václav, ist das nicht ‚mein‘ Intel und ‚mein‘ Projekt ist es auch nicht. Selbstzweifel bei Intel sowie den lokalen Wirtschafts- und Politikleuten kann ich beim besten Willen nicht entdecken. Einzelne Meldungen und Artikel muss man genau und komplett lesen, auch wenn das manchmal mühsam und kompliziert ist. Dann löst sich der eine oder andere Widerspruch auf. Vielleicht.“

„Warum habe ich dann kein klares Bild in dieser Angelegenheit? Da ist noch allenthalben auch noch die Fachkräfteflaute! Deine Bemerkung von neulich habe ich noch in Erinnerung, dass es hier mit der Willkommenskultur besser werden muss. Mann, ich brauche eine Grundlage für meine Risikobeurteilung! Das kommt mir manchmal vor, als wenn ein großer Dampfer auf etwas zufährt und viele am Steuerrad zerren, damit es zu keiner Kollision mit dem Eisberg kommt.“

„Abwarten kann ich nur sagen, abwarten und noch ein Bier auf dem Sonnendeck des Dampfers trinken, der erst richtig Fahrt aufnimmt. Die Einspruchsfrist bezüglich der Genehmigungsunterlagen ist abgelaufen. Ende Mai ist die Verhandlung der Einsprüche, dem Ereignis angemessen, in der heiligen Halle der Johanniskirche. Ob dann eine Beichte erfolgt, Reue gezeigt wird oder mit einem Kurswechsel gebüßt wird, das wird man sehen.“

„Apropos Buße, Reue, Prozess, vielleicht sogar Strafkolonie: Kennst du eigentlich K?“

„K? Meinst du Josef K? Oder Kafka? Da ist wieder einmal ein Gedenkjahr.“

„Genau. Ich versuche auf seinen Spuren zu wandeln, aber dass diese Intel-Sache hier für mich so verschlungen und unübersichtlich wird, war nicht mein Plan. Was soll ich nach Prag berichten?“

„Sag doch, du hättest in mir einen Guide, einen Aufpasser gefunden, der dich daran hindert, zum Kern der Sache vorzustoßen, dass du nicht den Mut aufbringst, selbst der Sache auf den Grund zu gehen. Schreib, dass das wahrscheinlich von langer Hand eingefädelt worden und dass das Kennenlernen im Zug möglicherweise arrangiert, also kein Zufall gewesen sei. Der Aufpasser tue nur so, als ob er alles wisse, relativiert dies aber gleichzeitig, verweist auf die offiziellen Zeremonienmeister der Stadt, der Regierung, an die du nicht herankommen kannst, und dass du dir zugleich nicht sicher bist, dass der Guide sie tatsächlich kennt. Du müsstest ganz von vorn anfangen, brauchtest noch Zeit. Alles würde sich stetig wandeln, hat einen für dich noch nicht erfassbaren Prozess eben.“

„Die halten mich doch für verrückt!“

„Bist du ja auch, vielleicht, ein bisschen, wer weiß.“

„War unser Treffen im Zug doch nicht zufällig?“

„Václav, jetzt bist du wirklich verrückt! Du musst nur noch behaupten, dass der Zug geheime Abteile hatte, wo man Intel-Erlaubnisscheine holen muss.“

„Das ist mir zu viel. Erlaubnisscheine. Aufpasser. Ich muss jetzt ins Hotel, morgen gehts sehr früh weiter.“

„Stimmt, ja, nach Norderney.“

Wir verabschiedeten uns mit dem Versprechen, in Kontakt zu bleiben. Im Hotel konnte ich nicht einschlafen. Ich war beunruhigt. Stand wieder auf. Wanderte durchs Zimmer. Ich fühlte mich beobachtet, ausgerechnet und manipuliert. Ich hatte mit Jan über Reiseziele gesprochen. Der schwärmte, anders als ich von der Nordsee, von der deutschen Ostseeküste, von Hiddensee und Usedom. Ich warf den Computer an und recherchierte: K. war tatsächlich auch an der Ostsee gewesen, in Müritz! Ich buchte kurzentschlossen um.

Ich musste lächeln, als ich mir am nächsten Morgen im Zug Richtung Ostsee vorstellte, wie Jan mich vergeblich im Zug nach Norddeich-Mole wieder zu treffen versuchte. Natürlich „rein zufällig“.

Ich genoss die Zugfahrt. Im Schwebezustand zwischen Denken und Dämmern fuhr ich dahin, machte schon Pläne, wie ich am nächsten Tag an der Seebrücke Graal-Müritz in Erinnerungen an K. versinken würde, als jemand freundlich fragte, obwohl fast alle anderen Plätze im Wagen noch frei waren: „Sorry, ist der Platz neben Ihnen noch frei?“