Ich hatte mich gleich bereit erklärt, den Ortstermin
wahrzunehmen. Es passte in meinen Plan, von Prag aus auf seinen Spuren zu
wandeln, nach und nach seine Reisen nachzuvollziehen. Magdeburg lag schon auf
halber Strecke zur Insel Norderney, aber das behielt ich für mich. Dorthin hatte
K. als junger Mann seine erste Reise unternommen. War er auch mit der Eisenbahn
über Magdeburg gefahren, um sich dort über Fragen der Arbeitssicherheit zu
informieren? Magdeburg war damals neben Böhmen ein wichtiges Industriezentrum.
Seit einiger Zeit häuften sich die Anfragen von meinen
tschechischen Landsleuten, ob unser Schutz für die verschiedenen Policen auch
gelte, wenn man für ein paar Jahre auf dieser Baustelle in Deutschland arbeiten
und zugleich in Magdeburg leben würde. Dort sollte etwas Neues entstehen:
Riesige Computerchip-Fabriken, Giga-Chip-Fabs. Kamen da neue Risiken auf unsere
Versicherung zu?
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Wandbild auf dem Weg von DELL zum Hbf Halle (Saale) |
„Wir müssen uns den neuen Technologien stellen, deren Umfeld
und Risiken ausleuchten und vor allem die Rolle der KI begreifen“, verkündigte
ich den Herren Direktoren. Denen gefiel das: „Da müssen jetzt die jungen Leute
ran, das ist die Zukunft, also los!“, hieß es. Die Herren waren nun so gut
gelaunt, dass ich ein paar Urlaubstage anhängen durfte.
Jung war ich. Ich sprach auch Deutsch, in der Schule auf
nachdrückliches Anraten meines Vaters gelernt. Beim Umstieg in Dresden kaufte
ich die aktuelle „Süddeutsche“ und das „Handelsblatt“. Für meine Recherchen
hatte ich auf meinem Notebook schon ältere Ausgaben der beiden Zeitungen sowie
meinen Abo-Zugang zum E-Paper der „Magdeburger Volksstimme“, die ich im ICE
nach Leipzig nach „Intel“ durchforstete. Mir fiel dabei zum ersten Mal bewusst das
kleine, silbern glänzende Label neben meiner Notebook-Tastatur auf: „intel CORE
i7 10TH GEN“, obwohl es dort schon seit zwei Jahren kleben musste.
Für den Zwischenstopp in Leipzig, der Stadt der Bücher,
wollte ich mir etwas Zeit nehmen, um auf seinen Spuren zu wandeln, die in Prag
schon zu ausgetreten waren. In Leipzig hatte er die ersten Verleger für „Die
Verwandlung“ und „Das Urteil“ gefunden. Die Cafés und Kneipen, die damals seine
Treffpunkte mit Ernst Rowohlt und Kurt Wolff waren, gab es nicht mehr.
Vielleicht aber noch einen anderen, in seinem Tagebuch verschlüsselt mit „B“
nicht genau bezeichneten Verweilort. Das führte meine Überlegungen wieder zu
meinem Auftrag zurück: Bis zu siebentausend Bauarbeiter, überwiegend Männer,
über Jahre in Magdeburg, hatte ich gelesen. Zum Risiko der Transformation wird
auch das Thema „B“ gehören. Da können und werden Unfälle und Zusammenstöße
passieren.
Das nasskalte Wetter trieb mich früher als gedacht zum
Kopfbahnhof zurück. Die monumentale Fassade ragte in der Dämmerung bedrohlich
auf, verwandelte sich aber dahinter in die Glitzerwelt eines tiefgründigen
Promenaden-Bahnhofs.
Ich hatte noch etwas Zeit, in der unterirdischen
Geschäftswelt zu flanieren und einer meiner Lieblingsbeschäftigungen
nachzugehen dem Beobachten von Menschen. Mir fiel gleich eine interessante Frau
auf, die mich an Miluška, erinnerte. Nordisch kühl, mit pechschwarzen
aufgesteckten Haaren, eine, die weiß, was sie will. Ich hätte sie aber niemals
angesprochen, als sie mir mit seltsam angehobenem Haupt in der Einkaufspassage entgegenkam.
Plötzlich änderte sie ihre Richtung, ging auf mich zu. Ich stoppte. Sie lief
weiter. Ich trat im letzten Moment zur Seite. Zu spät. Sie touchierte mich an
der linken Schulter, änderte darauf die Richtung und stieß mit dem Knie krachend
einen Werbeaufsteller um. Sie blieb wie erstarrt stehen, als wenn jemand
„Freeze!“ kommandiert hätte. Ich war in ein paar Schritten bei ihr. Sie war
nicht ansprechbar. Ein Schock? Ein Blickkontakt stellte sich erst allmählich
ein. Wir schauten uns zwar an, aber sie war wie in einer anderen Welt und kam nur
langsam zu sich, sagte kein Wort. Sie fing an, mich anzufassen, drücke mit
flachen Händen gegen meine Brust, packte mich an beiden Schultern und
schüttelte mich, zuerst vorsichtig, dann kräftiger, dann wieder langsam
wiegend, als ob sie mein Gewicht schätzen wollte. Ich war irritiert, wir
kannten uns nicht, fand es „übergriffig“, aber mir fehlten auch die Worte.
„Sie sind ja echt …“, stammelte sie, ihr Blick war jetzt auf
mich gerichtet, etwas ungläubig, als wenn ich ein Geist aus dem letzten
Jahrhundert wäre. „Sie sind ja echt!“, rief sie, „wirklich echt!“ Sie ließ mich
los und tastete mit beiden Händen ihren Kopf, ihr Gesicht ab, als wenn sie
etwas suchte. Die Starre war in ihrem Gesicht einem freien Lachen gewichen, als
wenn sie etwas begriffen hätte. Sie drehte sich weg und rannte, leicht humpelnd,
in die Richtung, aus der sie gekommen war. Ich sah kurz Ihren schönen Nacken.
Sie verschwand. Schade.
Kein ICE in Richtung Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt? Im IC
nach Magdeburg, der schon Norddeich-Mole, den Fähranleger nach Norderney, als
Endstation auf der Anzeigentafel auswies, vertiefte ich mich wieder in mein
Recherchematerial. Erst die Arbeit, dann das heimliche Ziel. So konnte ich
trotz der vielen Mitreisenden ganz für mich sein.
Richtig voll wurde der Zug in Halle, fast bis auf den
letzten Platz. Ein älterer Herr fragte höflich, aber bestimmt: „Sorry, ist der
Platz neben Ihnen noch frei?“, sodass ich meinen Rucksack von dort wegnahm. Er
streckte sein linkes Bein vorsichtig in den Gang und stöhnte dabei, den Kopf
schüttelnd. Ein wenig zu laut, wie ich fand. Ob von ihm beabsichtigt oder
nicht: Es ließ sich nicht vermeiden, dass er zusah, wie ich die verschiedenen
Zeitungsartikel auf dem Laptop-Bildschirm aufrief. Ungeniert verfolgte er alles.
Selbst als ich mich demonstrativ zurücklehnte, die Arme vor der Brust
verschränkte, ihn direkt und ernst ansah, bewirkte dies nur, dass der
ungebetene Mitleser sich zu meinem Computer vorbeugte, seine Brille aufsetzte,
um wohl auch noch die letzten Feinheiten erkennen zu können.
„Soll ich es für Sie noch etwas vergrößern?“, fragte ich
etwas scharf und laut genug, sodass einige der Umsitzenden aus ihrem Dämmern
mit einem kaum wahrnehmbaren Ruck auffuhren.
„Entschuldigen Sie, sorry, ich weiß, das ist nicht höflich,
ich war so überrascht, aber ich befasse mich gerade viel mit Intel, und, wie
ich sehe, Sie auch?“
„Meine Befassung mit dem Thema ist beruflicher Natur.
Vertraulich, wenn Sie wissen, wie ich das meine.“
„Ich glaubte, gleich eine Ahnung zu haben, als ich den
freien Platz neben Ihnen entdeckte“, sagte er, gerade so laut, dass ihm auch
die Aufmerksamkeit der anderen gewiss war.
„Eine Ahnung?“
„Wissen Sie, was ich gerade erlebt habe?“
Wusste ich nicht, aber dass es mit meiner beschauliche
Recherchearbeit zu Ende war, das wusste ich und klappte mein Notebook zu. „Was
denn?“, fragte ich, nun in einem etwas mehr interessierten und leiseren
Tonfall.
„Ich möchte nicht stören. Machen Sie ruhig weiter“. Er war
auch leiser geworden, sodass bei Sitznachbarn
die Lider wieder schwerer wurden und sie sich wieder dem Dösen hingaben.
„Und was haben Sie erlebt?“, wandte ich mich ihm zu und
signalisierte mit einer auffordernden Geste, dass ich bereit wäre, ihm, dem
Ahnungsvollen, zuzuhören. Vielleicht konnte ich meine Recherchen auf eine
andere Art fortsetzen.
„Das hätten Sie sehen müssen, bei DELL, vom Polylux zum Ätsch
-Em-Di.“
„DELL … Poly… was?“
„DELL, der amerikanische Computerhersteller, der mit Intel
zusammenarbeitet, hat in Halle eine große Niederlassung.“
„Ach so, wusste ich nicht.“ Unauffällig verdeckte ich mit
meiner Hand das DELL-Logo meines Notebooks und lenkte ab: Und was ist noch mal
Poly-Jux?“
„Lux. Polylux. Den hatte man früher in den Schulen, man
schrieb mit Stiften auf eine Folie, das Bild wurde dann an die Wand
projiziert.“
„Ach so, Sie meinen wahrscheinlich einen
Overhead-Projektor!“
„Sie kommen wohl nicht von hier, was?“
„Nein. Und wie hieß das andere? Ätsch-Em-Di? Mein Deutsch
ist nicht so gut.“
„Das ist ja auch Amerikanisch. Die drei Buchstaben HMD für
Head-Mounted-Display.“
„Kenn ich nicht.“
„Man sagt auch VR-Brille dazu, VR für Virtual-Reality“,
belehrte mich mein Sitznachbar, tastete dabei sein linkes Schienbein ab und
verzog das Gesicht schmerzlich.
„Ah, Virtual-Reality, das habe ich schon mal gehört oder im
Internet gesehen.“
„Also, die haben da den Klassenraum der Zukunft eröffnet,
alles elektronisch, der ganze Raum voller Computer, große und kleine,
Bildschirme, vor allem große und ganz große, und Kameras, überall, die alles
übertragen für Webkonferenzen zwischen Lernenden und Lehrenden. Unser
Ministerpräsident, der Wirtschaftsminister und die Geschäftsführer von
Deutschland waren da. Insgesamt bestimmt 250 Personen. Ich sage Ihnen, die
haben alle Register gezogen, ich bin jetzt noch richtig erschlagen.“
„Und wer sind ‚die‘?“, versuchte ich ihn daran zu erinnern,
dass ich neben ihm saß.
„Intel und DELL!“
„Ah, jetzt verstehe ich: Intel auch. Unser gemeinsames
Thema. Und der Bundeskanzler war da?“
„Der Bundeskanzler? Nein.“
„Sie sagten doch ‚Geschäftsführer von Deutschland‘.“
„Nein, ich meinte die Geschäftsführer von DELL Deutschland und
die Geschäftsführerin von Intel Deutschland!“
„Und was haben Sie da gemacht?“
„Heute war doch die offizielle Eröffnung des ‚Classroom of
the Future‘. Gäste aus Politik, Wirtschaft und Medien. Ich war auch
eingeladen.“ Dabei zelebrierte der euphorisierte und wieder aufdringlicher
werdende Mitreisende einen Augenaufschlag, den man fast klappern hören konnte
und setzte fort: „Ich habe dann auch die VR-Brille aufgesetzt und etwas
probiert.“
Kurz kam mir der Gedanke, dass man ihn als Repräsentanten
von „Oma und Opas for Future“ eingeladen haben könnte. Aber die Bemerkung
verkniff ich mir. „Und wie war‘s?“
„Unglaublich, als wenn man wirklich in einer anderen Welt
wäre, so realistisch durch die 3-D-Technik. Ich habe eine kleine Fabrik gebaut
und gleich simuliert. Eine virtuelle Trainerin gab mir am Schluss die
Anweisung, auf den virtuellen KI-Knopf zu drücken und dann …“, er strich dabei
über sein im Gang ausgestrecktes Bein, kniff die Augen etwas zu.
Und dann?“
„Dann musste ich so einem fahrenden Roboter aus dem Weg
gehen, ganz schnell, und schon tat‘s richtig weh.“
„Der Roboter hat Sie erwischt?“
„Da konnte ich noch ausweichen, weil diese nette Trainerin,
also der Avatar in der VR-Welt ‒
oder sagt man die Avatarin? ‒
egal ‒ mich warnte und mir
die Fluchtrichtung anzeigte. Dahin bin ich gerannt, in Echt, hatte in dem
Moment nicht bedacht, dass ja eigentlich nichts passieren konnte, es war ja
alles nur virtuell, nicht echt.“
„Ich verstehe. Ihr Bein?“
„Ja, da stand in der Realität ein Stuhl im Weg und ich dann
voll … Oh, Mann … hier genau, an dieser Stelle“. Meine Zufallsbekanntschaft hob
sein Bein, um mir exakt die Stelle des Grenzkonfliktes zwischen Virtualität und
Realität zu zeigen und setzte fort: „Ich habe mich dann gleich entschuldigt.“
„Beim Stuhl?“
„Nein. Auf dem Stuhl saß eine junge Frau. Ihr ist aber
nichts passiert, bis auf den Schreck. Aber wir haben uns nach meiner Verarztung
noch nett unterhalten. Sie ist Professorin am hallischen Fraunhofer Institut
für Mikrostrukturen, thematisch nah an dem Intel-Thema dran, näher als die
Forschungsinstitute in Magdeburg. Darf man in Magdeburg aber nicht so laut
sagen.“
„Und die Frau wollte auch den ‚Classroom for the future‘
nutzen?“, insistierte ich, bevor er wieder abschweifen konnte.
„Es war schon beeindruckend zu sehen, was da auf unsere
Schulen zukommt.“
„In dem Raum werden jetzt Schulklassen unterrichtet?“
„Nicht direkt. Es ist ein Raum für Lehrer und Lehrerinnen
aus der Region für ‚Learning by doing‘, damit sie wissen, was es alles gibt und
was sie in der Schule gebrauchen könnten. Sie lernen, um dann besser als die
Schüler und Schülerinnen in den oberen Klassen oder in der Berufsschule mit der
Hard- und Software umgehen zu können.“
„Hört sich auch etwas nach ‚Showroom‘ an, auf Deutsch: ‘Verkaufsraum‘.“
„Mag sein. Ja, stimmt. Jemand sprach davon, dass dieser
‚Digitalpakt Schule‘ noch bis Ende 2024 läuft, und die Gelder noch nicht
ausgeschöpft wären.“
Einige Fahrgäste wurden unruhig, und mein lädierter Sitznachbar
erhob sich vorsichtig. „Wir sind gleich in Magdeburg, ich muss da raus. Fahren
Sie weiter?“
„Heute noch nicht, ich steige auch aus und schaue mir
Magdeburg ein paar Tage an. Mich interessiert die Verwandlung von Magdeburg im
Rahmen des zu erwartenden Transformationsprozesses durch die Intel-Ansiedlung.
Was das mit den Leuten hier macht, auch mit den Arbeitern und Arbeiterinnen aus
dem Ausland während der Bauphase. Welche Risiken oder Probleme sehen Sie für
die Beschäftigten im Zuge der Intel-Ansiedlung?“
„Was meinen Sie mit Ausland?“
„Tschechien.“
„Ach so, Tschechien. Da sehe ich kein so großes Risiko. Aber
warten wir die nächsten Wahlergebnisse ab.“
„Sie scheinen sich hier ja gut auszukennen. Auch mit Intel,
sagten Sie?“
„Oh, da kann ich Ihnen einiges erzählen.“
Da musste ich zufassen: „Schön, dann könnten wir uns
vielleicht mal bei einem Kaffee treffen und Sie erzählen mir einiges, auch wie
das genau war, mit Ihrer realen Verletzung durch VR und KI. Was hätten Sie
gemacht, wenn die Verletzung schlimmer gewesen wäre? Welche Versicherung wäre
dann der Kostenträger für die Behandlung und die Reha gewesen?“
„Also, darüber habe ich noch nie nachgedacht.“
„Sehen Sie, das zu klären, ist nun mein Job. Da kann schnell
ein vertrackter Prozess anhängig werden.“
Wir trafen uns mehrmals in den nächsten Tagen. Es wurde
vertrauter, wir kamen zum Du, und ich konnte die in mir angestauten Fragen beim
Bier im M2 am Hasselbachplatz anbringen:
„Jan, ich habe so viel Widersprüchliches gelesen: In der
‚Volksstimme‘ viel Jubel, dann wieder Wasser- und Bodenzweifel, in der
‚Süddeutschen‘ wird das Magdeburger Projekt verglichen mit den neuen
Chip-Projekten in Dresden, München und im Saarland, die wohl näher am deutschen
Markt sind und deswegen mehr Sinn machen. Joachim Hofer vom ‚Handelsblatt‘, der
scheint ja ein internationaler Halbleiter-Spezialist zu sein und müsste es
wissen, rät Intel, sich diese Investition in Magdeburg zu sparen, weil sie sich
wirtschaftlich nicht rechnen würde. Dann bin ich wieder auf mehrere
‚Volksstimme‘-Artikel von vor einigen Monaten gestoßen, in denen es hieß, dass
eigentlich alles in trockenen Tüchern wäre. Dann vor kurzem nicht nur in der
‚Volksstimme‘, aber da auf Seite eins, die Hiobsbotschaft, dass Intel in der
Vergangenheit hohe Verluste gemacht hat und auch in Zukunft machen wird. Wie
passt das alles zusammen?“
Jan reagierte nicht, er dachte wohl nach, und nachdem ich
wieder zu Atem gekommen war, setzte ich fort: „Und wie passt dazu, dass die
Intel-Kollegen die 10 großen Neubauprojekte neulich bei LinkedIn schön
säuberlich aufgelistet gesehen haben, darunter auch Magdeburg, und so auf
insgesamt über 100 Milliarden Dollar Investition kommen? Da schwebt für mich
doch ein Fragezeichen über allem, ob das nicht zu viel des Guten ist. Spuren
von Selbstzweifel sehe ich bei Intel aber nicht. Wird dir da nicht angst und bange
um deine schöne, ambitionierte Giga-Chip-Fab hier? In Frankfurt/Oder wurde
schon mal ein Intel-Projekt in den brandenburgischen Sand gesetzt, obwohl das
Gebäude schon stand, weil eine öffentliche Bürgschaft nicht rechtzeitig kam,
das kannst du nachlesen.“
„Also, erstmal, lieber Václav, ist das nicht ‚mein‘ Intel
und ‚mein‘ Projekt ist es auch nicht. Selbstzweifel bei Intel sowie den lokalen
Wirtschafts- und Politikleuten kann ich beim besten Willen nicht entdecken.
Einzelne Meldungen und Artikel muss man genau und komplett lesen, auch wenn das
manchmal mühsam und kompliziert ist. Dann löst sich der eine oder andere
Widerspruch auf. Vielleicht.“
„Warum habe ich dann kein klares Bild in dieser
Angelegenheit? Da ist noch allenthalben auch noch die Fachkräfteflaute! Deine
Bemerkung von neulich habe ich noch in Erinnerung, dass es hier mit der
Willkommenskultur besser werden muss. Mann, ich brauche eine Grundlage für
meine Risikobeurteilung! Das kommt mir manchmal vor, als wenn ein großer Dampfer
auf etwas zufährt und viele am Steuerrad zerren, damit es zu keiner Kollision
mit dem Eisberg kommt.“
„Abwarten kann ich nur sagen, abwarten und noch ein Bier auf
dem Sonnendeck des Dampfers trinken, der erst richtig Fahrt aufnimmt. Die
Einspruchsfrist bezüglich der Genehmigungsunterlagen ist abgelaufen. Ende Mai
ist die Verhandlung der Einsprüche, dem Ereignis angemessen, in der heiligen
Halle der Johanniskirche. Ob dann eine Beichte erfolgt, Reue gezeigt wird oder
mit einem Kurswechsel gebüßt wird, das wird man sehen.“
„Apropos Buße, Reue, Prozess, vielleicht sogar Strafkolonie:
Kennst du eigentlich K?“
„K? Meinst du Josef K? Oder Kafka? Da ist wieder einmal ein
Gedenkjahr.“
„Genau. Ich versuche auf seinen Spuren zu wandeln, aber dass
diese Intel-Sache hier für mich so verschlungen und unübersichtlich wird, war
nicht mein Plan. Was soll ich nach Prag berichten?“
„Sag doch, du hättest in mir einen Guide, einen Aufpasser
gefunden, der dich daran hindert, zum Kern der Sache vorzustoßen, dass du nicht
den Mut aufbringst, selbst der Sache auf den Grund zu gehen. Schreib, dass das
wahrscheinlich von langer Hand eingefädelt worden und dass das Kennenlernen im
Zug möglicherweise arrangiert, also kein Zufall gewesen sei. Der Aufpasser tue
nur so, als ob er alles wisse, relativiert dies aber gleichzeitig, verweist auf
die offiziellen Zeremonienmeister der Stadt, der Regierung, an die du nicht
herankommen kannst, und dass du dir zugleich nicht sicher bist, dass der Guide
sie tatsächlich kennt. Du müsstest ganz von vorn anfangen, brauchtest noch
Zeit. Alles würde sich stetig wandeln, hat einen für dich noch nicht
erfassbaren Prozess eben.“
„Die halten mich doch für verrückt!“
„Bist du ja auch, vielleicht, ein bisschen, wer weiß.“
„War unser Treffen im Zug doch nicht zufällig?“
„Václav, jetzt bist du wirklich verrückt! Du musst nur noch
behaupten, dass der Zug geheime Abteile hatte, wo man Intel-Erlaubnisscheine
holen muss.“
„Das ist mir zu viel. Erlaubnisscheine. Aufpasser. Ich muss
jetzt ins Hotel, morgen gehts sehr früh weiter.“
„Stimmt, ja, nach Norderney.“
Wir verabschiedeten uns mit dem Versprechen, in Kontakt zu
bleiben. Im Hotel konnte ich nicht einschlafen. Ich war beunruhigt. Stand
wieder auf. Wanderte durchs Zimmer. Ich fühlte mich beobachtet, ausgerechnet
und manipuliert. Ich hatte mit Jan über Reiseziele gesprochen. Der schwärmte, anders
als ich von der Nordsee, von der deutschen Ostseeküste, von Hiddensee und
Usedom. Ich warf den Computer an und recherchierte: K. war tatsächlich auch an
der Ostsee gewesen, in Müritz! Ich buchte kurzentschlossen um.
Ich musste lächeln, als ich mir am nächsten Morgen im Zug
Richtung Ostsee vorstellte, wie Jan mich vergeblich im Zug nach Norddeich-Mole
wieder zu treffen versuchte. Natürlich „rein zufällig“.
Ich genoss die Zugfahrt. Im Schwebezustand zwischen
Denken und Dämmern fuhr ich dahin, machte schon Pläne, wie ich am nächsten Tag
an der Seebrücke Graal-Müritz in Erinnerungen an K. versinken würde, als jemand
freundlich fragte, obwohl fast alle anderen Plätze im Wagen noch frei waren:
„Sorry, ist der Platz neben Ihnen noch frei?“