Dienstag, 27. August 2024

# 065 Willkommen in Magdeburg - Auf der Suche

Freitagmittag. Am Magdeburger Breiten Weg, Nummer 120a, gegenüber dem Katharinenturm – von älteren Magdeburgern oft noch „Haus des Lehrers“ genannt – ein Hinweisschild: Magdeburger Welcome Service.

Ich trete ein und treffe auf eine vielleicht 10-köpfige Seniorengruppe, im Stuhlkreis sitzend, alle haben eine klobige VR-Brille vor den Augen, man verdreht die Köpfe in verschiedene Richtungen. Es wirkt fast wie ein Verrenken. Die Runde schaut sich wohl in einer virtuellen Gegend oder in einem Raum um. Eine jüngere Frau im Kreis, auch sie mit VR-Brille, erklärt und gibt Hinweise: „Schauen Sie nach rechts! Sehen Sie das alte Gebäude?“ Man gestikuliert. Einige wenden die Köpfe nach rechts, andere entdecken wohl gerade etwas anderes. Man gestikuliert. Eine surreale Szene.

Schon wieder VR

An der Empfangstheke fängt mich ein junger Mann ab, der im Flüsterton fragt, wohin ich wolle. „Zum Welcome Center“, flüstere ich. Ich bin hier falsch, denn ich bin im MWG-Nachbarschaftstreff gelandet. Der Welcome Service sei in der Etage darüber, ich müsse den Eingang in der Passage nebenan nehmen. „Was machen die da?“, frage ich sehr gedämpft, den Kopf dabei kurz zum Stuhlkreis drehend. „Die sind gerade in Schottland“, raunt der junge Mann. Meinen Wunsch, von dieser Runde ein Foto schießen zu dürfen, muss er aus verständlichen Gründen abschlagen. Schade. So baue ich mir dieses Bild später mit KI nach. Es wirkt aber nur halb so surreal wie die Realität.

Der VR-Stuhlkreis virtuell in Schottland, wie ihn die KI sieht.

So kann man sehr günstig nach Schottland reisen. Das ist nicht so kompliziert, wenn man nicht mehr rüstig ist, denke ich. Auch ganz im Sinne eines geizigen Schotten. Ein Vorurteil in meiner eigenen Willkommenskultur?

Ich kenne weder einen Schotten noch eine Schottin persönlich. Die sind mittlerweile auch keine EU-Bürger mehr und müssten sich mit vielen anderen Nicht-EU-Bürgerinnen vor dem Ausländeramt einreihen, um eine Arbeitserlaubnis oder längerfristige Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Wie könnte das Magdeburger Welcome Service Center einem Schotten, zum Beispiel bei der Suche nach einer sehr günstigen Wohnung, helfen?

Wie geht „willkommen“ konkret?

Christiane Pruschek
Mitarbeiterin des Magdeburger Welcome Service
Das werde ich oben gleich erfragen. Der Aufzug und das düstere Treppenhaus wirken nicht eben einladend. „Freitags geschlossen!“ Aber die Etagentür lässt sich öffnen. Ich trete in einen bunten, hellen und freundlichen Vorraum, von wo weitere Türen in Nachbarräume führen. Aus einem kommt mir Christiane Pruschek entgegen, die mich ‒ auch außerhalb der offiziellen Sprechstunde ‒ freundlich empfängt.

Ich erkläre, dass ich zum Thema Willkommenskultur in Magdeburg recherchiere, dass es mich interessiert, was als Welcome Service von ihr geboten wird. Sie umreißt kurz die Aufgaben, die in einem Video der Stadt Magdeburg (High-Tech inside #7: Magdeburg Welcome Service (youtube.com) und auch auf der Webseite der Stadt beschrieben sind (Magdeburg Welcome Service / Landeshauptstadt Magdeburg - magdeburg.de), und sie erklärt, dass es eine Gemeinschaftsaktion von IHK, HWK, den Hochschulen und dem Leibniz-Institut sei . Sie und ihre Kollegin möchten Lotsinnen sein für den Zugang zum Arbeitsmarkt, bei der Anerkennung von Abschlüssen, sie wollen Hilfe leisten bei der Wohnungssuche und dem Finden von Kinderbetreuungsmöglichkeiten usw.

Für die Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung ist weiterhin ausschließlich die Ausländerbehörde zuständig. Also keine „Überholspur“ für dringend gesuchte Fach- und Arbeitskräfte oder Akademiker. Aber in den Beschreibungen der Flyer und der Homepage wird deutlich, dass diese Klientel im Fokus stehen soll. Frau Christiane Pruschek  und die Kollegin sprechen auch Englisch. Für andere Sprachen steht Übersetzerpersonal zur Verfügung. Wie mir versichert wird, ist der Magdeburger Welcome Service für alle ausländischen Bürger eine mögliche Anlaufstelle.

Viele Angebote

Neben den Ausländerämtern und dem Magdeburger Welcome Service gibt es beispielsweise noch weitere Einrichtungen und Aktionen der Willkommenskultur in Sachsen-Anhalt, die für ein gutes Willkommensgefühl von deutschen und ausländischen Mitbürgern sorgen, die Sachsen-Anhalter und Sachsen-Anhalterinnen werden möchten:

Danach müsste Magdeburg doch in Sachen Willkommenskultur gut aufgestellt sein. Oder sind die Willkommensaussichten erstmal nur virtuell, wie die schottischen Landschaften für die Seniorengruppe? Kommt es nicht auch auf die vielen Magdeburger Bürger in täglichen, realen Begegnungen an?

Das soll in der Veranstaltung am 2.9.2024 in der Stadtbibliothek praktisch untersucht werden. https://herbert-karl-von-beesten-intel-blog.blogspot.com/2024/08/064-industrie-und-willkommenskultur.html

Der Blick über den Kultur-Zaun

Ich war im August auf Transformationsrecherche im UNESCO Welterbe „Zollverein“ (einer ehemaligen Zeche und Kokerei) und im Ruhrmuseum. Im Jahr 2010 war das der Mittelpunkt der europäischen Kulturhauptstadt Essen mit der Region Ruhrgebiet. Dort werden die Transformationsprozesse der letzten 120 Jahre an Ruhr und Emscher real begreifbar.

Da gab es auch ein stetes Auf und Ab. Das Gebiet boomte schon um 1900. So kamen polnische Arbeiter an die Ruhr. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben Gastarbeitergenerationen aus Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und der Türkei das westdeutsche „Wirtschaftswunder“ wesentlich mitgetragen. Spätestens ab den 70er Jahren fing der Strukturwechsel an: mit zunehmender Arbeitslosigkeit und der Transformation zur Dienstleistungsgesellschaft. Es ging und geht dabei nicht alles glatt, Probleme sind nicht zu leugnen. In der in Essen präsentierten Rückschau sind auch viele positive Beispiele der Integration und Transformation zu sehen. Vielleicht als deren Ergebnis konnte ich in Essen im Umgang mit den Menschen die erfrischende typische Offenheit der Ruhrgebietler erleben, deren einnehmendes und direktes Wesen. Eine bereits über mehrere Generationen entstandene gelungene Mentalitätskombination aus der ursprünglich westfälischen, zurückhaltenden Sturköpfigkeit mit dem Einfluss vieler Nationen.

Das können auch Perspektiven und Chancen für Magdeburg und Ostdeutschland sein, wenn man von dem Niedergang einiger Ruhrgebietsstädte – für den Gelsenkirchen oft ein Synonym ist – absieht. Magdeburg wird 2025 nicht Kulturhauptstadt, hat aber die Aussicht, zum ostdeutschen Transformationshotspot zu werden. Das könnte auf jeden Fall nachhaltiger wirken, als wenn wir europäische Kulturhauptstadt geworden wären.

 

Was hat Magdeburg mit dem Ruhrgebiet gemeinsam?

Industrielle Verbindungen:

Da gibt es die schon 1855 von Magdeburgern gegründete „Magdeburger Bergwerks AG mit der Zeche Königsgrube“ im heutigen Ortsteil von Herne, Wanne-Eickel. Zum Zeitpunkt der Schließung, Ende der 60er-Jahre, befand sie sich im Besitz des Krupp Konzerns. 

Die „Grusonwerk AG Buckau“ wurde nach dem Ausscheiden von Hermann Gruson 1893 vom Kruppkonzern als „Friedrich Krupp AG Grusonwerk“ übernommen und in der DDR als Schwermaschinenbau-Kombinat „Ernst Thälmann“ (SKET) weitergeführt. Es ist davon auszugehen, dass Hermann Gruson und Alfred Krupp sich persönlich kannten, zumal sie auch ähnliche soziale Ansätze beim Umgang mit ihren Beschäftigten verfolgten.

Brüder im Geiste? Stahlbarone, Innovatoren, auch Waffenproduzenten: Alfred Krupp (1812-1887) und Hermann Gruson (1821 – 1895)

Sport als Integration: Das Ruhrgebiet mit den Erst-, Zweit- und Drittligavereinen ist genauso fußballverrückt wie Magdeburg. Im Magdeburger-Kader haben zwei Drittel der Spieler ausländische Wurzeln: in Europa, Afrika und Asien. „Auf Schalke“ zum Beispiel ist die Quote fast genauso hoch.

Wirtschaftliche existentielle Krisen: Es gab an der Ruhr große Rückschläge und Probleme durch die Schließung aller Zechen und der meisten Stahlwerke, die bis heute andauern (Stichwort Rheinhausen). Magdeburg wurde durch die Folgen der Wende ähnlich, vielleicht sogar noch stärker belastet. belastet. Aber das ist der Blick zurück. Eine aktuelle, gemeinsame Frage könnte werden, wie man die zweifellos entstehenden Herausforderungen der Migration bewältigt. 

Und was hat Intel damit zu tun?

Intel war in den letzten zwei Jahre Auslöser und Prüfstein für das Thema Willkommenskultur. Das gilt auch weiterhin für viele Ebenen (Kulturangebot, Sprachen, Gastronomie, Internationalisierung der Stadtgesellschaft, Wohnungswirtschaft, Betreuung, Bürokratie usw.) wenn die Ansiedlung ein Erfolg werden soll. Selbst wenn sich alles verzögern oder Intel gar absagen sollte, so wird ein anderes großes Unternehmen kommen, das in der Regel international aufgestellt ist. So sind wir gefordert, auf die neuen Mitbürger zuzugehen, damit sie kommen wollen und bleiben.

Fundstück:

Passend zum Thema dieses Beitrages und zur aktuellen Banksy-Ausstellung in der Magdeburger Hyparschale: Die Willkommensmatte von Banksy aus speziellem Material.



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