Freitagmittag.
Am Magdeburger Breiten Weg, Nummer 120a, gegenüber dem Katharinenturm – von
älteren Magdeburgern oft noch „Haus des Lehrers“ genannt – ein Hinweisschild:
Magdeburger Welcome Service.
Ich trete
ein und treffe auf eine vielleicht 10-köpfige Seniorengruppe, im Stuhlkreis
sitzend, alle haben eine klobige VR-Brille vor den Augen, man verdreht die
Köpfe in verschiedene Richtungen. Es wirkt fast wie ein Verrenken. Die Runde
schaut sich wohl in einer virtuellen Gegend oder in einem Raum um. Eine jüngere
Frau im Kreis, auch sie mit VR-Brille, erklärt und gibt Hinweise: „Schauen Sie
nach rechts! Sehen Sie das alte Gebäude?“ Man gestikuliert. Einige wenden die
Köpfe nach rechts, andere entdecken wohl gerade etwas anderes. Man
gestikuliert. Eine surreale Szene.
Schon
wieder VR
An der
Empfangstheke fängt mich ein junger Mann ab, der im Flüsterton fragt, wohin ich
wolle. „Zum Welcome Center“, flüstere ich. Ich bin hier falsch, denn ich bin im
MWG-Nachbarschaftstreff gelandet. Der Welcome Service sei in der Etage darüber,
ich müsse den Eingang in der Passage nebenan nehmen. „Was machen die da?“,
frage ich sehr gedämpft, den Kopf dabei kurz zum Stuhlkreis drehend. „Die sind
gerade in Schottland“, raunt der junge Mann. Meinen Wunsch, von dieser Runde
ein Foto schießen zu dürfen, muss er aus verständlichen Gründen abschlagen.
Schade. So baue ich mir dieses Bild später mit KI nach. Es wirkt aber nur halb
so surreal wie die Realität.
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Der VR-Stuhlkreis virtuell in
Schottland, wie ihn die KI sieht. |
So kann man sehr günstig nach Schottland reisen. Das ist
nicht so kompliziert, wenn man nicht mehr rüstig ist, denke ich. Auch ganz im
Sinne eines geizigen Schotten. Ein Vorurteil in meiner eigenen
Willkommenskultur?
Ich kenne
weder einen Schotten noch eine Schottin persönlich. Die sind mittlerweile auch
keine EU-Bürger mehr und müssten sich mit vielen anderen Nicht-EU-Bürgerinnen
vor dem Ausländeramt einreihen, um eine Arbeitserlaubnis oder längerfristige
Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Wie könnte das Magdeburger Welcome Service
Center einem Schotten, zum Beispiel bei der Suche nach einer sehr günstigen
Wohnung, helfen?
Wie geht
„willkommen“ konkret?
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Christiane
Pruschek Mitarbeiterin des Magdeburger Welcome Service |
Das werde
ich oben gleich erfragen. Der Aufzug und das düstere Treppenhaus wirken nicht
eben einladend. „Freitags geschlossen!“ Aber die Etagentür lässt sich öffnen.
Ich trete in einen bunten, hellen und freundlichen Vorraum, von wo weitere
Türen in Nachbarräume führen. Aus einem kommt mir Christiane Pruschek entgegen, die mich ‒
auch außerhalb der offiziellen Sprechstunde ‒ freundlich empfängt.
Ich
erkläre, dass ich zum Thema Willkommenskultur in Magdeburg recherchiere, dass
es mich interessiert, was als Welcome Service von ihr geboten wird. Sie umreißt
kurz die Aufgaben,
die in einem Video der
Stadt Magdeburg (High-Tech inside #7: Magdeburg Welcome
Service (youtube.com) und auch auf der Webseite der Stadt beschrieben sind (
Magdeburg
Welcome Service / Landeshauptstadt Magdeburg - magdeburg.de), und sie
erklärt, dass es eine Gemeinschaftsaktion von IHK, HWK, den Hochschulen und dem
Leibniz-Institut sei . Sie und ihre Kollegin möchten Lotsinnen sein für den
Zugang zum Arbeitsmarkt, bei der Anerkennung von Abschlüssen, sie wollen Hilfe
leisten bei der Wohnungssuche und dem Finden von Kinderbetreuungsmöglichkeiten
usw.
Für die
Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung ist weiterhin ausschließlich die
Ausländerbehörde zuständig. Also keine „Überholspur“ für dringend gesuchte
Fach- und Arbeitskräfte oder Akademiker. Aber in den Beschreibungen der Flyer
und der Homepage wird deutlich, dass diese Klientel im Fokus stehen soll. Frau Christiane
Pruschek und die Kollegin sprechen auch Englisch. Für andere Sprachen steht
Übersetzerpersonal zur Verfügung. Wie mir versichert wird, ist der Magdeburger
Welcome Service für alle ausländischen Bürger eine mögliche Anlaufstelle.
Viele
Angebote
Neben den
Ausländerämtern und dem Magdeburger Welcome Service gibt es beispielsweise noch
weitere Einrichtungen und Aktionen der Willkommenskultur in Sachsen-Anhalt, die
für ein gutes Willkommensgefühl von deutschen und ausländischen Mitbürgern
sorgen, die Sachsen-Anhalter und Sachsen-Anhalterinnen werden möchten:
Danach
müsste Magdeburg doch in Sachen Willkommenskultur gut aufgestellt sein. Oder
sind die Willkommensaussichten erstmal nur virtuell, wie die schottischen
Landschaften für die Seniorengruppe? Kommt es nicht auch auf die vielen
Magdeburger Bürger in täglichen, realen Begegnungen an?
Das soll
in der Veranstaltung am 2.9.2024 in der Stadtbibliothek praktisch untersucht
werden. https://herbert-karl-von-beesten-intel-blog.blogspot.com/2024/08/064-industrie-und-willkommenskultur.html
Der Blick
über den Kultur-Zaun
Ich war im
August auf Transformationsrecherche im UNESCO Welterbe „Zollverein“ (einer
ehemaligen Zeche und Kokerei) und im Ruhrmuseum. Im Jahr 2010 war das der
Mittelpunkt der europäischen Kulturhauptstadt Essen mit der Region Ruhrgebiet.
Dort werden die Transformationsprozesse der letzten 120 Jahre an Ruhr und
Emscher real begreifbar.
Da gab es
auch ein stetes Auf und Ab. Das Gebiet boomte schon um 1900. So kamen polnische
Arbeiter an die Ruhr. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben Gastarbeitergenerationen
aus Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und der Türkei das westdeutsche
„Wirtschaftswunder“ wesentlich mitgetragen. Spätestens ab den 70er Jahren fing
der Strukturwechsel an: mit zunehmender Arbeitslosigkeit und der Transformation
zur Dienstleistungsgesellschaft. Es ging und geht dabei nicht alles glatt,
Probleme sind nicht zu leugnen. In der in Essen präsentierten Rückschau sind
auch viele positive Beispiele der Integration und Transformation zu sehen.
Vielleicht als deren Ergebnis konnte ich in Essen im Umgang mit den Menschen
die erfrischende typische Offenheit der Ruhrgebietler erleben, deren
einnehmendes und direktes Wesen. Eine bereits über mehrere Generationen
entstandene gelungene Mentalitätskombination aus der ursprünglich
westfälischen, zurückhaltenden Sturköpfigkeit mit dem Einfluss vieler Nationen.
Das können
auch Perspektiven und Chancen für Magdeburg und Ostdeutschland sein, wenn man
von dem Niedergang einiger Ruhrgebietsstädte – für den Gelsenkirchen oft ein
Synonym ist – absieht. Magdeburg wird 2025 nicht Kulturhauptstadt, hat aber die
Aussicht, zum ostdeutschen Transformationshotspot zu werden. Das könnte auf
jeden Fall nachhaltiger wirken, als wenn wir europäische Kulturhauptstadt
geworden wären.
Was hat
Magdeburg mit dem Ruhrgebiet gemeinsam?
Industrielle
Verbindungen:
Da gibt es die schon 1855 von Magdeburgern gegründete
„Magdeburger Bergwerks AG mit der Zeche Königsgrube“ im heutigen Ortsteil von
Herne, Wanne-Eickel. Zum Zeitpunkt der Schließung, Ende der 60er-Jahre, befand
sie sich im Besitz des Krupp Konzerns.
Die
„Grusonwerk AG Buckau“ wurde nach dem Ausscheiden von Hermann Gruson 1893 vom
Kruppkonzern als „Friedrich Krupp AG Grusonwerk“ übernommen und in der DDR als
Schwermaschinenbau-Kombinat „Ernst Thälmann“ (SKET) weitergeführt. Es ist davon
auszugehen, dass Hermann Gruson und Alfred Krupp sich persönlich kannten, zumal
sie auch ähnliche soziale Ansätze beim Umgang mit ihren Beschäftigten
verfolgten.
Brüder im Geiste? Stahlbarone, Innovatoren, auch
Waffenproduzenten: Alfred Krupp (1812-1887) und Hermann Gruson (1821 – 1895)
Sport als
Integration: Das Ruhrgebiet mit den Erst-, Zweit- und Drittligavereinen ist
genauso fußballverrückt wie Magdeburg. Im Magdeburger-Kader haben zwei Drittel
der Spieler ausländische Wurzeln: in Europa, Afrika und Asien. „Auf Schalke“
zum Beispiel ist die Quote fast genauso hoch.
Wirtschaftliche
existentielle Krisen: Es gab an der Ruhr große Rückschläge und
Probleme durch die Schließung aller Zechen und der meisten Stahlwerke, die bis
heute andauern (Stichwort Rheinhausen). Magdeburg wurde durch die Folgen der
Wende ähnlich, vielleicht sogar noch stärker belastet. belastet. Aber das ist
der Blick zurück. Eine aktuelle, gemeinsame Frage könnte werden, wie man die
zweifellos entstehenden Herausforderungen der Migration bewältigt.
Und
was hat Intel damit zu tun?
Intel war
in den letzten zwei Jahre Auslöser und Prüfstein für das Thema
Willkommenskultur. Das gilt auch weiterhin für viele Ebenen (Kulturangebot,
Sprachen, Gastronomie, Internationalisierung der Stadtgesellschaft,
Wohnungswirtschaft, Betreuung, Bürokratie usw.) wenn die Ansiedlung ein Erfolg
werden soll. Selbst wenn sich alles verzögern oder Intel gar absagen sollte, so
wird ein anderes großes Unternehmen kommen, das in der Regel international
aufgestellt ist. So sind wir gefordert, auf die neuen Mitbürger zuzugehen,
damit sie kommen wollen und bleiben.
Fundstück:
Passend zum Thema dieses
Beitrages und zur aktuellen Banksy-Ausstellung in der Magdeburger Hyparschale:
Die Willkommensmatte von Banksy aus speziellem Material.